Sie rettete Juden – jetzt musste sie selber fliehen
Die unglaubliche Geschichte der Lidia Savchuk

Im Zweiten Weltkrieg rettete Lidia Savchuk (97) Juden vor dem Tod. In dunkelsten Zeiten fand sie die Liebe. Jetzt musste sie selber aus der Ukraine fliehen – und fand Zuflucht in Luzern.
Publiziert: 04.09.2022 um 10:50 Uhr
Lea Ernst

Der Körper von Lidia Savchuk (97) sitzt auf dem Sofa in Luzern, doch ihr Geist scheint unerreichbar weit weg. Seit zwei Jahren zerfrisst Alzheimer ihre Erinnerungen. Zuerst langsam, heute erkennt sie ausser ihrer Tochter Olena niemanden mehr. Den ganzen Nachmittag über hat sie nichts gesagt, auch nicht vorhin, als Olena ihren Rollstuhl an den Vierwaldstättersee geschoben hat. Um ihr die Blumen zu zeigen, die ihre Mutter so sehr liebt.

Tag für Tag vergisst Lidia mehr von ihrer Welt, die sich im vergangenen halben Jahr einmal mehr radikal verändert hat. Was die meisten nur aus der Zeitung oder dem Geschichtsbuch kennen, musste sie nun schon zum zweiten Mal erleben: Ihr Zuhause wird zerbombt. Nach 50 Tagen Angst, Sirenen und Krieg flüchteten Lidia, Olena und deren Mann Igor aus Kiew nach Luzern.

Lidia Savchuk in ihrer neuen Heimat – jeden Tag schiebt ihre Tochter Olena den Rollstuhl ihrer Mutter an den Vierwaldstättersee.
Foto: Lea Ernst

Die Geschichte von Lidia Savchuk, erzählt von Olena und Igor, ist eine unglaubliche Geschichte. Voller dunklen Zeiten, menschlicher Abgründe, Tod und dem Entrinnen davor. Doch es ist auch eine Geschichte der Zufälle und der Hoffnung, voller Fürsorge und Liebe. Eine der Geschichten, wie sie das Leben nur ganz selten schreibt.

Als aus Freunden Verfolgte wurden

Mit 16 hatte Lidia heimliche Mitbewohner. Zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer Grossmutter lebte sie in Winnyzja, einer ukrainischen Stadt vier Autostunden südwestlich von Kiew. In ihrem Estrich, im Stall und hinter dem Holzlager wohnten Freunde der Familie Savchuk. Lidia brachte ihnen Wasser und Brot, erzählte niemandem ein Wort davon. Ihre Freunde waren Juden.

Im Sommer 1941 ätzte sich der Zweite Weltkrieg weiter in Richtung Osten: Die Deutsche Wehrmacht fiel in die Sowjetunion ein, zu der damals auch die Ukraine gehörte. Noch zwei Jahre zuvor hatten über 33'000 Juden in Winnyzja gelebt – mehr als ein Drittel der Stadtbevölkerung. Als die Deutschen kamen, war fast die Hälfte der jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner bereits geflohen.

Derselbe stolze, nachdenkliche Blick: Lidia im Jahr 1945, gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges.
Foto: Lea Ernst

Die schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich. Immer häufiger überfielen die deutschen Besatzer jüdische Haushalte, prügelten ihre Bewohner in Ghettos oder verschleppten sie in Konzentrationslager. Auch denjenigen, die Juden halfen, drohte der Tod. Wie Lidia und ihren Eltern, bei denen sich die vierköpfige jüdische Familie Manis versteckte. Auch die Tulchins, eine eng befreundete Familie aus der Nachbarschaft, suchte hin und wieder bei ihnen Unterschlupf.

Die Tulchins wurden nach ein paar Monaten an den Stadtrand vertrieben. Regelmässig brachten ihnen die Savchuks Kartoffeln vorbei. Im April 1942 wollte Lidias Vater die Familie besuchen, doch von ihr fehlte jede Spur. Auf Befehl der Deutschen hätten sie zum Stadion gehen müssen, fand Lidias Vater heraus. Noch an diesem Tag wurden die Tulchins erschossen. Zusammen mit knapp 5000 anderen Juden, die im Stadion zusammengetrieben worden waren. Ende des Krieges waren von den 18'000 Juden, die bei Kriegsbeginn in Winnyzja wohnten, noch 74 am Leben.

Der ausgemergelte Fremde

Die Belagerung dauerte an, der Herbst färbte die Blätter rot. Von der kalten Strasse nahm Lidias Mutter einen jungen Mann bei sich auf. Verlumpt, halb verhungert, gab nichts von sich preis. Obwohl sie selber weniger als genug hatte, bat sie ihn herein und gab ihm zu essen.

Am Tisch sprachen die Savchuks und der ausgemergelte Fremde über den Krieg, über berstende Häuser und zerschlagene Träume. Die Familie erzählte, wie sie versucht hatte, ihren jüdischen Freunden zu helfen. Der junge Mann fasste Vertrauen und stellte sich vor: Leutnant Isaak Tartakovsky, 29 Jahre alt, eigentlich Kameramann, dann Kriegsgefangener. Und – Jude. Durch ein kleines Loch im Stacheldraht war er aus dem Gefangenenlager Kirowograd geflohen. Und somit dem sicheren Tod entronnen.

Jedes vierte Holocaust-Opfer stammt aus der Ukraine

Die Ukraine war einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkrieges. 2.4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich verschleppt. Zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer verloren ihr Dach über dem Kopf. Von etwa 40 Millionen Kriegstoten in Europa war jedes fünfte Opfer eine Ukrainerin oder ein Ukrainer: Mindestens acht Millionen Menschen starben. Als die deutsche Besatzung endete, waren von den 42 Millionen Einwohner noch 27.5 übrig.

Unter den Opfern waren 1,6 Millionen Juden. Jedes vierte Opfer des Holocausts stammt aus der Ukraine. Im Kiewer Tal Babyn Jar fand 1941 die grösste Erschiessungsaktion des Völkermordes statt: In zwei Tagen wurden dort mehr als 33000 jüdische Frauen, Männer und Kinder ermordet. Die Gedenkstätte Babyn Jar wurde Anfang März 2022 bei russischen Raketenangriffen getroffen. Fünf Menschen starben.

Die Ukraine war einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkrieges. 2.4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich verschleppt. Zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer verloren ihr Dach über dem Kopf. Von etwa 40 Millionen Kriegstoten in Europa war jedes fünfte Opfer eine Ukrainerin oder ein Ukrainer: Mindestens acht Millionen Menschen starben. Als die deutsche Besatzung endete, waren von den 42 Millionen Einwohner noch 27.5 übrig.

Unter den Opfern waren 1,6 Millionen Juden. Jedes vierte Opfer des Holocausts stammt aus der Ukraine. Im Kiewer Tal Babyn Jar fand 1941 die grösste Erschiessungsaktion des Völkermordes statt: In zwei Tagen wurden dort mehr als 33000 jüdische Frauen, Männer und Kinder ermordet. Die Gedenkstätte Babyn Jar wurde Anfang März 2022 bei russischen Raketenangriffen getroffen. Fünf Menschen starben.

Die Savchuks nahmen Isaak bei sich auf, stellten ihn fortan als entfernten Verwandten vor. Die Familie hatte grosses Glück. Niemand entdeckte Isaak in einer Zeit, in der nur schon ein falscher Name den Tod bedeuteten. 1944 vertrieb die sowjetische Rote Armee die deutsche Wehrmacht. Der Grossteil der Bevölkerung war erleichtert, einige ukrainische Nationalisten sahen in der Roten Armee bloss neue Besetzer. Isaak kehrte ins Militär zurück, um seinen Wehrdienst zu beenden.

Pech im Krieg, Glück in der Liebe

Als Lidia neun Jahre nach Abzug der Deutschen für ihr Ökonomiestudium nach Kiew zog, versorgte die Stadt noch immer ihre Kriegswunden. Über 70 Prozent ihrer Häuser, Kirchen und Kathedralen waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Nirgendwo anders gab es eine dermassen grosse Zerstörung. Deutsche als auch Sowjets hatten in der Ukraine auf die Kriegstaktik der «verbrannten Erde» gesetzt – und alles in Schutt und Asche gebombt, was dem Gegner in irgendeiner Weise nützen könnte.

Seit dem Ende des Krieges hatten sich Lidia und Isaak nicht mehr gesehen. Doch als die beiden per Zufall am selben Tag und zur selben Zeit vor dem Hauptpostamt am Kiewer Maidan standen, dem Platz der Unabhängigkeit, erkannten sie sich auf einen Blick. Isaak hatte in der Zwischenzeit sein Kunststudium abgeschlossen. Lidia und Isaak freuten sich über das Wiedersehen und vereinbarten ein Treffen.

Schwiegersohn Igor hilft Lidia in den Rollstuhl. In den letzten zwei Jahren hat sich ihre Gesundheit massiv verschlechtert.
Foto: Lea Ernst

Nach der verbrannten Erde war auch die ukrainische Hoffnung geschwunden, dass nach dem Krieg alles besser würde. Mit der Roten Armee war Josef Stalins Terrorherrschaft in das Land zurückgekehrt. Stalin, der die Ukraine noch kurz vor dem Krieg auf grausame Art und Weise ausgehungert hatte, während er mit ihrem Getreide die sowjetische Industrialisierung finanzierte. Durch den sogenannten Holodomor trieb der sowjetische Diktator in nur zwei Jahren rund vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in den Hungertod.

Nach dem Zweiten Weltkrieg baute Stalin das Land mittels Zwangsarbeit der Bevölkerung und Kriegsgefangenen wieder auf. Das Ziel: die Sowjetunion und Stalins Position zu stärken. Das Ergebnis: Erneute Hungersnöte und Armut in der Ukraine.

Doch 1953 lag Tauwetter in der Luft. Stalin starb. Mit seinem Tod nahmen eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen ihren Lauf – die Entstalinisierung hatte begonnen. Rund 1,2 Millionen Insassen konnten die sowjetischen Straflager verlassen, Stalins Terror und seine Säuberungen wurde erstmals öffentlich aufgearbeitet, die Zensur in Kunst und Literatur lockerte sich.

Mitten in dieser Zeit des Aufschwungs trafen sich Lidia und Isaak schon bald erneut, verstanden sich gut, trafen sich wieder. Die beiden wurden ein Paar und heirateten.

Überraschung aus Israel

50 Jahre nach Kriegsende geschah etwas, womit Lidia nie gerechnet hätte. 1995 wurde ihr der Ehrentitel «Gerechte unter den Völkern» verliehen. Eine in Israel eingeführte Auszeichnung für Nichtjuden, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um Juden vor der Ermordung zu retten.

Mittlerweile war die Ukraine unabhängig geworden, die Sowjetunion zerfallen. Isaak, unterdessen ein berühmter Maler, hatte seine Porträts und Gemälde in zahlreichen ukrainischen Museen ausgestellt. Seine Bleistiftskizzen von dem, was er in den Gefangenenlagern gesehen und erlebt hatte, waren im Nationalen Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg untergebracht. Lidia hatte für den Staat im Finanzsektor gearbeitet und war Hausfrau.

Isaak Tartakovsky wurde ein berühmter ukrainischer Künstler. Er verstarb 2002.
Foto: Lea Ernst
Lidia vor dem Einschlafen: Eine Skizze Isaak Tartakovskys.
Foto: Lea Ernst

Olena setzt sich neben Lidia aufs Sofa, die schwere Ehrenmedaille in den Händen. Neben ein paar Kleidern und alten Fotos eines der wenigen Dinge, die die Familie aus der Ukraine mitgenommen hat. «Ich glaube, Lidia war vorher nie wirklich bewusst, wie ausserordentlich mutig es war, was sie getan hat», sagt Olena.

Zwar habe ihre Mutter grosse Angst gehabt, erwischt und getötet zu werden, doch sei es für die Familie Savchuk selbstverständlich gewesen, zu versuchen, möglichst viele Juden vor den Grausamkeiten der Nazis zu bewahren. Während die allermeisten anderen Familien untätig zuschauten.

Nach dem Krieg blieb die Angst

Bis 1995 hatten Lidia und Isaak ausser ihren Kindern fast niemandem von ihrer Geschichte erzählt. Denn auch nach Abzug der Nazis blieb es gefährlich, jüdisch zu sein. In den stalinistischen Säuberungen der Sowjetunion wurden antisemitische Motive aufgegriffen, später hielten judenfeindliche Verschwörungstheorien und der Antizionismus die Benachteiligung und Vorbehalte gegenüber Juden aufrecht.

1995 wurde Lidia als Gerechte unter den Völkern geehrt – ein israelischer Ehrentitel für diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg Juden geholfen haben.
Foto: Lea Ernst

Das Kriegstrauma sass tief, es herrschten Verunsicherung und Misstrauen. «Die Sowjetunion verschwieg bewusst, dass es sich bei den Opfern des Holocausts um Juden handelte», sagt Marta Havryshko (37). Sie ist ukrainische Historikerin und Direktorin des Instituts für interdisziplinäre Studien an der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar bei Kiew.

Die Situation war verzwickt: Einerseits verbot der sowjetische Geheimdienst die Gedenkfeiern für die Holocaustopfer, weil sie das KGB als Treffen ukrainischer Nationalisten und jüdischer Extremisten einschätzte. Dabei teilten viele Nationalisten eigentlich extrem antisemitische Ansichten – weshalb sich die Juden und die Gerechten unter den Völkern davor hüteten, ihre Geschichten öffentlich zu machen.

«Wir haben immer die Wahl: wegschauen oder helfen»

Tatsächlich waren einige ukrainische Nationalisten zu Mittätern geworden, sagt Havryshko. Dass eigene Landsleute ihre Finger im Spiel hatten, habe es für viele Ukrainerinnen und Ukrainern schwer gemacht, über den Holocaust zu sprechen. Und so legte sich ein Schleier aus Angst und Scham über die Angelegenheit.

Bis 1991. «Mit der Unabhängigkeit begann die Ukraine, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten», erzählt Havryshko. Gedenkstätten wurden errichtet, Überlebenden wurde zugehört und die Gerechten unter den Völkern geehrt, Strassen und Plätze nach ihnen benannt. 2021 wurde der 14. Mai als ihr Ehrentag bestimmt. Eine wichtige Entwicklung, sagt Havryshko. «Der Mut dieser Menschen in schweren Zeiten soll nach dieser langen Zeit der Abwertung und Angst endlich gewürdigt werden.»

Auch nach dem Krieg lebten Juden in Angst, sagt Marta Havrshko (37). Sie ist ukrainische Historikerin und Direktorin des Institus für interdisziplinäre Studien an der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar bei Kiew.
Foto: Stefan Bohrer

Unterdessen sterben Menschen, die das Naziregime überlebt haben, unter russischen Granaten. Durch den erneuten Krieg sei es noch einmal viel wichtiger geworden, aufzuklären, was im Holocaust genau passiert ist, sagt Havryshko. Schliesslich bezeichne Putin fälschlicherweise alle Ukrainerinnen und Ukrainer als Nazi-Kollaborateure und nutzte dies als Rechtfertigung dafür, sie zu töten.

Die Erinnerung an den Holocaust zeige uns, dass wir auch heute jederzeit die Wahl haben, sagt Havryshko: «Die Wahl, sich wegzudrehen und seine Augen zu verschliessen. Oder aber die Wahl, aktiv zu werden und denjenigen zu helfen, die bedroht sind.»

Erinnerungen in Schwarz und Weiss

In der Luzerner Dreizimmerwohnung glüht der Sommer. «Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, boten uns Israel und der jüdische Organisationsbund Claims Conference sofort Unterstützung an», erzählt Olena. Sie schlugen vor, einen Krankenwagen zu organisieren oder die Familie nach Israel zu bringen. Für die gebrechliche Lidia war das zu weit weg. Stattdessen flüchtete die Familie mit dem Auto zu Olenas und Igors Sohn, der seit einigen Jahren in der Schweiz arbeitet.

Igor, Lidia und Olena sind nach 50 Tagen Angst und Krieg in die Schweiz geflüchtet.
Foto: Lea Ernst
In Luzern gehe es ihrer Mutter viel besser, seit sie wieder nach draussen könne, sagt Olena.
Foto: Lea Ernst

Hier erhält die Familie Unterstützung der Schweizer Stiftung Gamaraal, die sich für Holocaust-Überlebende und für die nachhaltige Förderung von Bildung rund um den Holocaust einsetzen. Jedes Jahr melden sich bei Gamaraal Überlebende aus allen Teilen der Schweiz. Gründerin Anita Winter (59) ist unermesslich dankbar, dass sie ihre eindrücklichen Geschichten teilen: in Gedenken an diejenigen, die nie erzählen konnten, zu was Menschen fähig sind und was ihnen zugestossen ist. Damit zukünftigen Generationen nie etwas Ähnliches passiert.

Isaak ist bereits 2002 verstorben. Seine beiden Kinder sind ebenfalls Künstler geworden: Olena Palamarchuk und Anatoly Tartakovsky. In der Ecke des Luzerner Wohnzimmers steht Olenas Staffelei, mit dem ersten Bild, das sie hier gemalt hat. Die Luzerner Seepromenade, wo die Welt noch eine friedliche ist. Neben dem Malen kümmert sie sich um Lidia, der Architekt Igor lernt Deutsch.

Seit ihrer Flucht malt Olena die Luzerner Seepromenade. Wenn sie von ihren Eltern etwas gelernt hat, dann dass es immer irgendwie weitergeht.
Foto: Lea Ernst
Für einen kurzen Moment kehren die Erinnerungen zurück, als Lidia die alten Schwarz-Weiss-Bilder anschaut.
Foto: Lea Ernst

In Zeitlupe greift Lidia nach dem Stapel Fotos, den Olena inzwischen neben sie aufs Sofa gelegt hat. Sie dreht die Schwarz-Weiss-Bilder in den Händen, so sorgfältig, als fürchtete sie, die kleinen Gesichter könnten zu Staub zerfallen. Ihre Tochter Olena und ihr Sohn Anatoly, als sie noch Kinder waren. Ihr Mann, als er noch lebte, vor einem Porträt, das er soeben gemalt hatte. Und da, Lidia selbst, unverkennbar trotz der schwarzen Locken. Mit demselben stolzen, nachdenklichen Blick, mit dem sie einen noch heute anschaut.

«Wir», sagt Lidia mit brüchiger Stimme. Sie legt ihren Finger auf die Fotos, blickt auf, das vom Alter zerfurchte Gesicht ganz mild. «Das sind ja wir alle.» Sie lächelt. Und für einen kurzen Moment sind die Erinnerungen wieder da.

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