Mutter von missbrauchten Kindern erzählt
So leben Opfer nach Pädo-Übergriff

Ein pädophiler Übergriff warf Familie P. aus Zürich Anfang 2019 komplett aus der Bahn. BLICK hat die alleinerziehende Schweizerin mit ihren Kindern seither immer wieder getroffen. Und dokumentiert, was das Verbrechen mit der Familie machte.
Publiziert: 08.03.2020 um 22:55 Uhr
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Aktualisiert: 09.03.2020 um 07:00 Uhr
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Die Kinder von Melanie P. wurden von einem Pädophilen missbraucht.
Foto: Siggi Bucher
Michael Sahli

Ein einzelner Ordner wiegt tonnenschwer im Leben von Melanie P.* aus Zürich (44). Darin befindet sich das Böse: die Beweismittel der mehrfachen sexuellen Übergriffe auf Alina* und Tom* (heute beide 5), die Kinder der alleinerziehenden Mutter. Handy- und Computerauswertungen, die ersten Einvernahmeprotokolle – am schlimmsten: Fotos von den Kindern, die der Täter während der Übergriffe machte.

Als BLICK Melanie P. Anfang 2019 zum ersten Mal traf, liefen die Ermittlungen auf Hochtouren. Und es sollten noch Monate vergehen, bis sie die Kraft aufbrachte, den Ordner zu öffnen.

BLICK hat die Familie seither regelmässig getroffen. Und hat dokumentiert, was ein solches Verbrechen mit einer Opferfamilie macht. Wie das Leben mit dem Verbrechen zum Alltag wurde.

«Mein Urvertrauen ist zerstört»

Wer das alte Mietsreihenhäuschen von Familie P. in Zürich betritt, wird lautstark empfangen. «Wir haben noch laaaange Ferien», ruft Alina und reicht ihr Händchen zur Begrüssung. Das Wetter ist schlecht. Darum hocken die Kinder zu Hause oder toben herum. Normale Fünfjährige eben. Auch die Mutter sagt am Küchentisch: «Ich denke nicht mehr jeden Tag daran, was passiert ist.» Trotzdem sei das Verbrechen irgendwie immer da.

«Wenn sich die Kinder in der Schule auffällig verhalten, frage ich mich sofort, ob das vielleicht einen Zusammenhang mit den Übergriffen hat», erklärt sie. Die Gedanken kreisten während Monaten: Sollte sie das Thema ansprechen? Selber haben die Kinder ja nie etwas erwähnt. Sollte sie einfach hoffen, dass sie die Sache nicht verstanden haben? Doch auch die Mutter hat Ängste, die sie vorher nicht hatte. Etwa wenn die Kinder zu Freunden nach Hause gehen wollen. «Mein Urvertrauen ist zerstört», so Melanie P.

Der Täter bot sich als Retter in der Not an

Im November 2018 war die Welt noch in Ordnung. «Ein Polizist hat angerufen und mich vorgeladen. Ohne zu sagen, um was es geht.» Melanie P. hat keine Ahnung, als sie auf dem Posten erscheint. Nie hätte sie gedacht, dass der freundliche Nachbar sich an ihren Kindern vergangen haben könnte. «Dann legte der Beamte zwölf Bilder auf den Tisch. Auf zehn davon waren meine Kinder zu sehen.» Über die Kinderanwältin erhält die Mutter den Ordner mit den ersten Beweismitteln.

Heute kennt sie den Inhalt praktisch auswendig. Und musste zum Schluss kommen: «Ich war das perfekte Opfer. Alleine, verwundbar und angeschlagen.» 2016 kommt es nach zwölf Jahren Ehe zur Trennung. Es folgten Erschöpfungsdepression und Aussteuerung. Weil sie die Medikamente nicht verträgt, nimmt sie Cannabis.

Der Ex-Mann zahlt die Alimente nur unregelmässig. Dann verliert die Familie auch noch das Dach über dem Kopf und muss umziehen. «Mir wurde sogar mit der Fremdplatzierung der Kinder gedroht.» In diesem Moment bieten sich die neuen Nachbarn an, bei der Betreuung zu helfen. Doch der Mann, ein IV-Rentner, wird schon nach wenigen Monaten vom Retter zum Verbrecher. Mehrfach vergeht er sich am damals nicht einmal vier Jahre alten Mädchen. Die schweren Übergriffe filmt er und schickt das Material an seine Partnerin.

«Mehr als ein paar Jahre Gefängnis liegen wohl nicht drin»

Dass der Fall aufflog, ist purer Zufall. Der Täter wurde in Schaffhausen beim Sprayen erwischt, auf seinem Handy das belastende Material gefunden. Der Nachbar wird verhaftet, seine Partnerin bei ihrer Arbeitsstelle, einem Stadtzürcher Betreibungsamt, festgenommen. BLICK hat ausführlich über den Fall berichtet und wird es darum an dieser Stelle nicht noch mal tun. Dieser Artikel gehört den Opfern.

Die Ermittlungen sind mittlerweile fortgeschritten. Und bald könne es zum Prozess kommen, sagt Melanie P. «Im Sommer vielleicht», habe ihre Anwältin gesagt. Eine Befragung steht noch an. Melanie P. will dabei sein, dem Mann, der ihren Kindern Unglaubliches antat, ins Gesicht schauen. Die alleinerziehende Schweizerin ist aber nicht sehr zuversichtlich, dass harte Strafen gesprochen werden. «Mehr als ein paar Jahre Gefängnis liegen wohl nicht drin», sagt sie resigniert.

So ist der Bub während der Übergriffe auf den Bildern zwar im Raum zu sehen. Ein Übergriff im strafrechtlichen Sinne sei aber damit nicht so einfach zu beweisen wie beim Mädchen. Auch die Rolle der Partnerin, einer ehemaligen Betreibungsbeamtin, werde ihrer Meinung nach unterschätzt. Recht und Gerechtigkeit könnten weit auseinanderliegen, wenn die Anwälte ihre Arbeit getan haben, befürchtet die Mutter: «Es fühlt sich manchmal an, als würden die miteinander Schach spielen.»

Der Täter und seine Ex-Partnerin sind sowieso seit langem wieder auf freiem Fuss. «Der Gedanke, ihnen in der Stadt zu begegnen, macht mir Angst», sagt Melanie P. In solchen Momenten verliert sie sich manchmal in Rachegelüsten. Oder sie driftet in Verschwörungstheorien ab. Aber es gibt auch immer wieder unbeschwerte Momente der Normalität. Im Sommer schickt sie Fotos vom gemeinsamen Camping in der Ostschweiz. Alle lachen in die Kamera. Wie eine ganz normale Familie.

* Namen geändert

Pädo-Opfer fühlen sich im Stich gelassen

Regula Schwager ist Psychotherapeutin bei der Beratungsstelle Castagna für sexuell ausgebeutete Kinder und Jugendliche. Mit den Fragen, die sich Mutter Melanie P. stellt, ist die Expertin regelmässig konfrontiert. Sie erklärt: Die Hoffnung, dass junge Opfer die Übergriffe gar nicht mitbekommen haben, erfülle sich praktisch nie. «Für Kinder sind mehrmalige sexuelle Übergriffe immer traumatisierend, auch wenn sie nicht sofort Symptome zeigen», sagt sie.

Trotzdem sei es wichtig, das Verbrechen nicht ohne Anlass proaktiv anzusprechen. «Ein Trauma ist ein Ereignis, welches das Kind nicht bewältigen kann. Wird es daran erinnert, durchlebt das Opfer den Übergriff noch einmal. Und das kann erneut traumatisieren.»

Stattdessen müsse man als Angehöriger auf Verhaltensänderungen achten: «Wenn das Kind eine Not zeigt, ist es wichtig, dass es traumatherapeutische Behandlung bekommt, um die Ereignisse besser verarbeiten zu können.» Die Symptome können sehr unterschiedlich sein und sind in der Regel nicht eindeutig als Folgen der sexuellen Gewalt erkennbar: etwa wenn ein Kind nicht mehr isst, schläft oder nicht mehr in die Schule will.

Auch dass sich die Mutter über die Ermittlungsbehörden ärgert, kann Regula Schwager nachvollziehen: Es sei eine Tatsache, dass man sich in der Schweiz zwar intensiv um die Täter kümmert, aber die Opfer sexueller Übergriffe sich oft alleine gelassen fühlen. Dazu kommt: Das Strafrecht bildet die Schäden, welche die Täter anrichten, nicht unbedingt adäquat ab. So mache es juristisch beispielsweise einen riesigen Unterschied, ob es zu einer Penetration kommt oder nicht. «Dabei hinterlassen alle sexuellen Handlungen an Kindern – egal welche – schwere Schäden bei den Opfern.»

Wie viele Kinder von sexueller Gewalt betroffen sind, wird unterschätzt. «Umfragen ergaben, dass jede dritte bis fünfte Frau und jeder sechste bis zehnte Mann als Kind sexueller Gewalt ausgesetzt war.» Die Dunkelziffer ist sicher viel höher. Michael Sahli

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Regula Schwager ist Psychotherapeutin bei der Beratungsstelle Castagna für sexuell ausgebeutete Kinder und Jugendliche. Mit den Fragen, die sich Mutter Melanie P. stellt, ist die Expertin regelmässig konfrontiert. Sie erklärt: Die Hoffnung, dass junge Opfer die Übergriffe gar nicht mitbekommen haben, erfülle sich praktisch nie. «Für Kinder sind mehrmalige sexuelle Übergriffe immer traumatisierend, auch wenn sie nicht sofort Symptome zeigen», sagt sie.

Trotzdem sei es wichtig, das Verbrechen nicht ohne Anlass proaktiv anzusprechen. «Ein Trauma ist ein Ereignis, welches das Kind nicht bewältigen kann. Wird es daran erinnert, durchlebt das Opfer den Übergriff noch einmal. Und das kann erneut traumatisieren.»

Stattdessen müsse man als Angehöriger auf Verhaltensänderungen achten: «Wenn das Kind eine Not zeigt, ist es wichtig, dass es traumatherapeutische Behandlung bekommt, um die Ereignisse besser verarbeiten zu können.» Die Symptome können sehr unterschiedlich sein und sind in der Regel nicht eindeutig als Folgen der sexuellen Gewalt erkennbar: etwa wenn ein Kind nicht mehr isst, schläft oder nicht mehr in die Schule will.

Auch dass sich die Mutter über die Ermittlungsbehörden ärgert, kann Regula Schwager nachvollziehen: Es sei eine Tatsache, dass man sich in der Schweiz zwar intensiv um die Täter kümmert, aber die Opfer sexueller Übergriffe sich oft alleine gelassen fühlen. Dazu kommt: Das Strafrecht bildet die Schäden, welche die Täter anrichten, nicht unbedingt adäquat ab. So mache es juristisch beispielsweise einen riesigen Unterschied, ob es zu einer Penetration kommt oder nicht. «Dabei hinterlassen alle sexuellen Handlungen an Kindern – egal welche – schwere Schäden bei den Opfern.»

Wie viele Kinder von sexueller Gewalt betroffen sind, wird unterschätzt. «Umfragen ergaben, dass jede dritte bis fünfte Frau und jeder sechste bis zehnte Mann als Kind sexueller Gewalt ausgesetzt war.» Die Dunkelziffer ist sicher viel höher. Michael Sahli

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