Zora, 60 Jahre alt, sagt: «Für mich ist es kein Wunder, dass ich in der Prostitution gelandet bin.» Mit 17 Jahren setzte sie sich zum ersten Mal in die Lobby eines Zürcher Nobelhotels und bot einen Tausch an: Sex gegen Geld.
«Ich wollte rausfinden, wer ich bin. Was ich für einen Wert habe.» Mehr als zehn Jahre lang prostituierte sie sich.
Über die Zeit, als Zora in Studios arbeitete, sagt sie heute: «Sich zu prostituieren, geht wirklich jeder Frau an die Gefühle. Wenn du einen nackten Mann vor dir hast, der geil ist und dich anhechelt – das geht nicht ohne Drogen. Diese Tätigkeit erschüttert dich im Innersten. Ich habe Interviews gelesen von Frauen, die sagen, sie könnten diese Arbeit in ihr Leben integrieren. Ich selber habe niemanden kennengelernt, der das ohne Drogen konnte – aber vielleicht gibt es ja wirklich solche.»
Nächte im Puff
Mit rund 100 Frauen habe ich in zwei Jahren über dieses Thema gesprochen. Mit Frauen, die es noch tun – und ein paar wenigen wie Zora, die ausgestiegen sind. Ich habe festgehalten, was sie erzählten. Und oft an die junge Rumänin gedacht, die zu mir sagte: «Es ist sehr gut, dass du das alles aufschreibst.»
Kontakt zu Prostituierten zu finden, ist schwierig. Eine ganze Weile gelang es mir nicht. Frauen haben selten Zugang zu Puffs – es sei denn, sie prostituieren sich. Zufällig bekam ich den Kontakt zu einer Bordellbetreiberin. Ich schrieb ihr, sie lud mich ein vorbeizukommen. Wir unterhielten uns einen Abend lang. Am Ende sagte sie: «Wenn du wirklich verstehen willst, musst du Zeit hier verbringen. Das Vertrauen der Frauen gewinnen.» Viele Abende und Nächte verbrachte ich in ihrem Etablissement.
Zu Beginn erfuhr ich kaum etwas. Aber irgendwann war ich wohl nicht mehr ganz so fremd, die Frauen setzten sich zu mir aufs Sofa und begannen zu erzählen. Elena (30) aus Ungarn beispielsweise: «Mein Vater war Alkoholiker. Jeden Tag hat er mich geschlagen. Manchmal schlug er mit dem Gurt so brutal zu, dass ich keine Kleider mehr anziehen konnte, weil es so wehtat. Als ich 18 Jahre alt war, bin ich von zu Hause weg. Hätte ich eine normale Familie gehabt, wäre ich bestimmt glücklich und hätte nicht dieses Scheissleben.»
«Für gar nichts gut im Leben»
Die Frauen, mit denen ich sprach, arbeiten in verschiedenen Studios, Kantonen und Ländern. Manche auch als Escorts, andere auf dem Strich. Das Haus, in dem ich sie traf, ist von aussen betrachtet ein gutes Puff. Die Frauen schlafen nicht, wo sie arbeiten. Es ist immer jemand da, wenn Hilfe nötig ist. Die Frauen dürfen den Arbeitsort verlassen. Sie behalten 60 Prozent ihrer Einnahmen.
Die Arbeitsbedingungen sind also gut – und damit wohl nicht repräsentativ für die Schweiz. Dennoch erzählten die Frauen davon, dass sie nicht mehr wissen, was sie im Zimmer getan haben, wenn sie danach die Tür wieder öffnen – ein starkes Indiz dafür, dass ihre Psyche sie durch Abspaltung vor traumatischen Eindrücken schützt. Sie erzählen, dass sie Alkohol trinken und Drogen nehmen, um dieses Leben auszuhalten. Dass sie nicht mehr können, nicht mehr wollen.
Zum Beispiel die Rumänin Roxy: «Ich bin mir das gewohnt. Obwohl, eigentlich bin ich nicht nur Fleisch. Ich bin auch ein Mensch.» Und die bulgarische Mutter Sara (30) : «Ich entferne mich immer weiter vom Leben. Bekomme immer mehr Angst vor diesem normalen Leben da draussen. Ich kenne nur noch diese Welt hier. Habe Angst aufzuhören. Angst, dass ich es nicht schaffe. Angst davor, diesen Neubeginn nur schon zu versuchen. Was ist, wenn ich in einem normalen Beruf scheitere? Dann bin ich doch für gar nichts mehr gut in diesem Leben.»
Was Prostituierte erzählen, ist bedeutsam
Mir wurde bei meiner Recherche bewusst, dass die Geschichte vieler Menschen nicht gehört wird. Nicht etwa, weil sie nichts zu sagen haben. Was Prostituierte über ihr Leben erzählen, ist bedeutsam. Doch Erzählen braucht Raum. Man muss zuhören. Und sitzen bleiben, es aushalten. Denn was manche Menschen erzählen, kann grausam sein.
Etwa wenn Zora sagt, dass sie keinen Kontakt mehr zu den Prostituierten von damals hat. Weil viele gar nicht mehr leben – sie haben sich das Leben genommen. Oder wenn die 18-jährige Daniela erzählt: «Mein erster Tag in dieser Arbeit war in Deutschland. Ich vergesse das nie. Er hat gesagt: ‹Du kannst mir jetzt einen blasen.› Ich habe das noch nie gemacht. ‹Ich weiss nicht, wie das geht›, habe ich gesagt. Ich weinte. Er streichelte meinen Kopf.»
Mit der Zeit bekam ich auch Kontakt zu Frauen ausserhalb dieses Bordells. Ich lernte Peggy kennen, eine Deutsche, die selbständig anschafft, demnächst pensioniert wird und nie will, dass der Freier ihr das Geld in die Hand drückt. «Der Kunde muss es irgendwo hinlegen. Sonst fühlt es sich an wie Bezahlung.» Manche verschwinden, ohne zu zahlen. Peggy bat mich einmal, ihr bei Bewerbungen für eine Stelle bei der Migros zu helfen. Ich fragte sie, was sie für das Motivationsschreiben formulieren möchte. «Motivation?! Was soll ich da schreiben? Dass ich diesen Scheissjob nicht mehr machen will?»
Zittern vor Schmerz
Oder die Schweizerin Lina (33), die sagt, dass Prostitution eine Arbeit sei wie jede andere. Lina war Extrem-Sklavin. Geschlagen zu werden, mache ihr nichts aus, sagt sie. Ein Kunde habe sie immer in den Arm genommen, wenn sie wegen der Schläge nicht mehr konnte und am ganzen Körper zitterte. Er habe erst weitergemacht, wenn sie sich wieder beruhigt hatte. Oder die 33-jährige Bulgarin Dina, die aufhören wollte und erzählte, dass sie täglich eine Flasche Wein trinkt, «damit das alles besser geht».
Ein Jahr später höre ich, dass sie auf Heroin oder Crystal Meth ist, aussieht wie ein Skelett und noch immer anschafft. Eine ihrer Kolleginnen aus dem Bordell sagt: «Ich kenne Dina schon eine Weile. Schon ihr ganzes Leben sucht sie verzweifelt nach Liebe, nach irgendjemandem, der sie liebt.» Nun sei es zu spät. «Ich glaube nicht, dass Dina noch lange leben wird.»
Die Geschichten all dieser Frauen ähneln sich. Und doch ist jede von ihnen einzigartig. In ihren Geschichten kommt allerdings auffallend häufig körperliche oder sexuelle Gewalt vor. In der Prostitution. Aber auch zuvor oft schon in ihrer Kindheit.
Milena Stoffel, Teamleiterin der Gynäkologischen Praxis Kanonengasse in Zürich, hat viele Prostituierte als Patientinnen. Gewalt sei ein beherrschendes Thema in den Sprechstunden, wenn auch oft unausgesprochen. Sich aus gewalttätigen Situationen zu befreien, sei allerdings ein langer Prozess. Bei diesen Frauen ganz besonders: Sie fürchten um ihre Existenz, wenn sie sich wehren. «Die Frauen haben meistens eine geringe Bildung und sprechen kaum Deutsch. Sie sind isoliert, verletzlich und manipulierbar. Viele können ihren Job deshalb nicht eigenständig ausüben», sagt sie.
Prostitution steigt während Session
In der Schweiz wird das Bild der guten Prostitution gepflegt – ein Job wie andere halt. Die Frauen, die ich traf, widersprechen dieser Vorstellung. Ihre Stimme werden sie trotzdem nicht erheben. Und ihr Recht auf ein selbstbestimmtes, sicheres Leben niemals einfordern. Viel zu sehr sind sie damit beschäftigt zu überleben. Und das nicht erst seit Corona. Die Politik scheint es wenig zu kümmern. Im Gegenteil. Während der Session steigt in Bern die Zahl der Frauen, die ihre Dienste auf Sexseiten anbieten, jeweils frappant an – Angebot und Nachfrage.
Die Journalistin Aline Wüst recherchierte zwei Jahre lang im Rotlichtmilieu. Sie sprach mit rund 100 Frauen, die Geld mit Sex verdienen. Sie sass viele Abende im Puff, klickte sich durch Tausende von Sex-Annoncen, fror auf dem Strassenstrich, reiste mit einer Bulgarin in deren Heimatdorf, trieb Geld von einem Freier ein und schöppelte in Bukarest das Baby eines Menschenhändlers.
In ihrem Buch «Piff, Paff, Puff – Prostitution in der Schweiz» kommen neben Prostituierten auch Freier, eine Bordellbetreiberin, Polizisten, eine Gynäkologin und ein Psychiater zu Wort. Es ist im Echtzeit Verlag erschienen.
Vernissage: Freitag, 21. August, 20 Uhr, Kosmos, Zürich
Die Journalistin Aline Wüst recherchierte zwei Jahre lang im Rotlichtmilieu. Sie sprach mit rund 100 Frauen, die Geld mit Sex verdienen. Sie sass viele Abende im Puff, klickte sich durch Tausende von Sex-Annoncen, fror auf dem Strassenstrich, reiste mit einer Bulgarin in deren Heimatdorf, trieb Geld von einem Freier ein und schöppelte in Bukarest das Baby eines Menschenhändlers.
In ihrem Buch «Piff, Paff, Puff – Prostitution in der Schweiz» kommen neben Prostituierten auch Freier, eine Bordellbetreiberin, Polizisten, eine Gynäkologin und ein Psychiater zu Wort. Es ist im Echtzeit Verlag erschienen.
Vernissage: Freitag, 21. August, 20 Uhr, Kosmos, Zürich
Die Schweiz hat eines der liberalsten Prostitutionsgesetze weltweit. In Deutschland zeigt sich: Mit der Liberalisierung 1992 wuchs das Sexgewerbe enorm. Das Ziel, die Frauen zu stärken und zu schützen, wurde nicht erreicht. Stattdessen blüht der Menschenhandel.
Deshalb wird nun auf politischer Ebene über andere rechtliche Möglichkeiten diskutiert, um diese Frauen besser zu schützen. Darunter fällt auch das schwedische Modell. Dort werden Freier seit 20 Jahren bestraft, Prostituierte bleiben straffrei. Prostitution sei Gewalt an Frauen, sagen die Schweden. Deshalb müsse die Nachfrage eingedämmt werden. Frauen, die aussteigen wollen, erhalten Unterstützung. Auch Frankreich, Norwegen, Israel und Kanada verfahren heute so.
Die Schweiz hat eines der liberalsten Prostitutionsgesetze weltweit. In Deutschland zeigt sich: Mit der Liberalisierung 1992 wuchs das Sexgewerbe enorm. Das Ziel, die Frauen zu stärken und zu schützen, wurde nicht erreicht. Stattdessen blüht der Menschenhandel.
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