Schweden-Modell für die Schweiz?
Chefarzt sieht «differenzierte Durchseuchung» als Alternative

Der St. Galler Chefarzt Pietro Vernazza hält das Coronavirus als für weniger gefährlich als bisher vermutet. Er fordert, dass die Schweiz ihre Strategie grundsätzlich überdenke.
Publiziert: 19.07.2020 um 03:20 Uhr
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Aktualisiert: 19.07.2020 um 10:23 Uhr
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Pietro Vernazza, Ostschweizer Professor für Infektiologie, erachtet die Corona-Verhinderungsstrategie des Bundes für gescheitert.
Foto: GES

Das Coronavirus scheine «weniger gefährlich als gemeinhin vermutet» zu sein. Das sagt Pietro Vernazza, Professor und Chefarzt für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen. Im Gespräch mit der «SonntagsZeitung» sagt Vernazza, dass «eine differenzierte Durchseuchung eine Alternative zur heutigen Ausrottungsstrategie des Bundes» sei.

Man könnte die Schutzmassnahmen in der breiten Bevölkerung reduzieren, damit die junge Bevölkerung nach und nach mit dem Virus in Kontakt komme. Den älteren Menschen sollte man die Möglichkeit geben, sich besser zu schützen, hält Vernazza fest.

Es herrsche zu viel unbegründete Angst vor dem Virus, so der renommierte Infektiologe. Coronaviren seien seit Jahren weltweit unter Menschen verbreitet und würden nicht einfach verschwinden. Das Virus werde bei uns bleiben und man müsse lernen, damit zu leben.

Die geltenden Schutzmassnahmen seien nicht nur sehr aufwendig. Sie würden auch voraussetzen, jeden einzelnen Infektionsfall zu finden und zu behandeln, bis es einen brauchbaren Impfstoff gebe. Dabei sei auch die «Wahrscheinlichkeit sehr gross, dass die Impfung gerade bei älteren Menschen kaum nützt».

Zehnmal mehr Infektionen als diagnostiziert

Es sei schwierig, alle Infizierten aufzuspüren und abzuschotten. Doch inzwischen zeige sich auch, dass viel mehr Menschen, als bislang angenommen, mit dem Virus problemlos umgehen können. Damit sei das Virus eben doch in vielen Punkten ähnlich wie einer Grippe. Auch Menschen ohne Krankheitssymptome können sich anstecken. «Der Hauptunterschied ist», so Vernazza, «dass sich bei Corona in kürzester Zeit sehr viel mehr Menschen anstecken als bei der Grippe.»

Das Abflachen und Fallen der Kurve könne auch direkt mit dem Virus respektive dem Immunsystem von Menschen zusammenhängen. Vernazza spricht vom «Phänomen der Kreuzimmunität». Seit zwei Monaten würden Menschen beobachtet, die gegen andere Coronaviren eine Immunantwort entwickelt hätten. Sie würden milde oder gar nicht an Covid-19 erkranken. Offenbar entwickeln sich in der Bevölkerung natürliche Schutzbarrieren, die dem neuen Virus den Weg der Verbreitung abschneiden.

Die Schweiz, so Vernazza, müsse mit 4000 bis 8000 Covid-Todesfällen rechnen – Zahlen, die weit unter den anfänglichen Prophezeiungen liegen, als gewisse Epidemiologen noch von bis zu 100'000 Todesopfern gesprochen hätten.

«Schweden haben nichts falsch gemacht»

Die Schweden, so Vernazza, hätten «nichts falsch gemacht. Ihr Modell wird vor allem von Leuten kritisiert, die ihr eigenes Modell verteidigen müssen.» Stand heute sei unklar, ob es die Schweiz oder Schweden richtig gemacht habe. Das könne man erst beurteilen, wenn die Bevölkerung immun gegen Covid-19 sei.

Selber jedenfalls würde er bedenkenlos in Schweden Ferien machen. Das Land liege mit noch 54 Fällen pro 100'000 Einwohnern unterhalb der vom Bund festgelegten Grenze für Länder mit Quarantänepflicht: «Schweden», sagt Vernazza, «dürfte gar nicht mehr auf der Quarantäne-Liste des Bundes stehen.» (kes)

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