Zwölf Monate später geniesst Draghi weiterhin grosses Prestige. Seine Popularität sinkt jedoch und an seinem politischen Horizont ziehen sich Wolken zusammen.
Am Ende einer Regierungskrise in Rom, die zum Sturz seines Vorgängers Giuseppe Conte geführt hatte, wurde der frühere Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) als Chef einer Mehrparteienkoalition vereidigt.
In seine Regierung traten erfahrene Politprofis sowie parteilose Fachleute ein. Ein präzedenzlos breites Parteienspektrum unterstützte Draghis Regierung im Parlament. Alle Parteien mit Ausnahme der rechtsextremen Fratelli d'Italia sind im Boot.
Rivalitäten unter den Koalitionären
Die Bedingungen sind ideal, um der Regierung Stabilität zu sichern, die sie unbedingt braucht, um bis zum Ende der Legislaturperiode 2023 im Sattel zu bleiben. Doch der parteiunabhängige Draghi benötigt all sein politisches Geschick, viel Durchsetzungsvermögen und Geduld, um die ideologisch äusserst unterschiedlichen Gruppierungen in Einklang zu bringen.
Die technisch-politische Koalition stützt sich auf ein Bündnis aus Fünf-Sterne-Bewegung, Sozialdemokraten (PD), der Linkspartei Liberi e Uguali, der Forza Italia und Italia Viva sowie der rechten Lega. Die Bandbreite der Koalition reicht damit von der Linken bis zur populistischen Rechten um Lega-Chef Matteo Salvini.
Rivalitäten unter den Koalitionären stehen auf der Tagesordnung und zermürben Draghis Nerven. Zu den Spannungsthemen zählen die strengen Corona-Restriktionen, zu denen sich der einstige «Mr. Euro» entschlossen hat, um Italiens Durchimpfungsrate auf eine weltweite Spitzenposition zu treiben.
Kampf gegen die Corona-Pandemie
Den Kampf gegen die Pandemie hat Draghi wie einen Kriegszug geführt. Kein europäisches Land hat Impfpflichten so entschlossen eingeführt wie Italien - zunächst für das Gesundheits-, Bildungs- und Sicherheitswesen, dann für alle Italiener über 50 Jahre.
Mit 2G in allen Bereichen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens hat «Super Mario» eine Impfquote von 90 Prozent erreicht, doch sein eiserner Kurs hat ihm auch viel Kritik eingebracht. Seine Popularität ist laut jüngsten Umfragen im Sinken.
Verpflichtungen gegenüber der EU
Kühl und sachlich hat Draghi Italien durch die Wogen des zweiten Pandemie-Jahres geführt. Die Wirtschaft wuchs 2021 um 6,3 Prozent, so stark wie keine andere in Europa. Aus dem EU-Wiederaufbaufonds fliessen 222 Milliarden Euro, mit denen sich Italien verändern und modernisieren soll.
Unter Draghi erfüllte Rom schon alle 51 Reformziele, die Brüssel als Bedingung für die Freigabe der ersten Tranche an Finanzierungen vereinbart hatte. Doch viel mehr als Projektpläne und Absichtserklärungen sind das noch nicht.
Es fehlen die Dekrete für die konkrete Umsetzung. Bis zum Ende seiner Amtszeit 2023 muss Draghi noch viel Durchsetzungsvermögen an den Tag legen, um die Pläne zu konkretisieren, zu denen er sich gegenüber der EU verpflichtet hat.
Ob der Geldregen aus Brüssel in den kommenden vier Jahren wirklich ausgegeben werden kann, ist allerdings noch eine offene Frage, denn es mangelt in vielen Bereichen an Fachkräften - von der Verwaltung über die Planung bis zur Umsetzung der Projekte.
(SDA)