20'000 Frauen jährlich verlieren ihr Kind in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen
Eine betroffene Mutter bricht das Schweigen

Jede fünfte Schwangerschaft endet vor der zwölften Woche. Trotzdem sind frühe Fehlgeburten gesellschaftlich tabu. Die Betroffene Andrea Keller (48) will das Schweigen endlich brechen – und die Grünen-Nationalrätin Irène Kälin (32) fordert eine Gesetzesänderung.
Publiziert: 04.04.2019 um 01:20 Uhr
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Aktualisiert: 04.04.2019 um 08:26 Uhr
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Hebamme und Trauerfachfrau Anna Margareta Neff bietet über die Fachstelle kindsverlust.ch Beratungsgespräche für Betroffene an an.
Foto: zvg
Cinzia Venafro

Das erste Mal drückte sie die WC-Spülung. Beim zweiten Mal, gut ein halbes Jahr später, fing sie das Blut, das aus ihr floss, mit einer Binde auf. «Darin lag mein ungeborenes, blutverschmiertes Kind. Ich nahm es auf die Hand, es war vielleicht fünf Zentimeter gross. Aber Kopf, Bauch, Beine, Arme – ja sogar die Augen waren schon zu erkennen», erzählt Andrea Keller (49) aus Kirchdorf AG.

Die sportliche Aargauerin ist eine von geschätzt rund 20'000 Frauen pro Jahr, die ihr Kind in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen verlieren. Andrea Keller erlitt im Alter von 39 und 40 Jahren zwei frühe Fehlgeburten.

Ein Schicksal, das sie mit Géraldine Knie (46) teilt. Die Zirkuskönigin verlor zwei Kinder, kämpfte danach «körperlich und emotional» mit dem Verlust, wie sie gestern im BLICK-Interview erzählte. 

«Man sagte mir, ich könne ja froh sein, dass es so früh passiert ist»

Auch Andrea Keller war nach der zweiten Fehlgeburt in der achten Schwangerschaftswoche verzweifelt: Panikattacken, Ohnmacht, Einsamkeit machten ihr und ihrer Familie – sie hatte zu dem Zeitpunkt bereits einen fünfährigen Jungen – den Alltag zur Hölle. 

«Die Trauer holte mich doppelt ein. Denn ich hatte mir bei der ersten Fehlgeburt nicht zugestanden zu trauern», sagt Andrea Keller. Erst da habe sie realisiert, wie tabubehaftet die Gesellschaft auf Fehlgeburten vor der 13. Schwangerschaftswoche reagiert. «Der Tenor aus dem Umfeld war gut gemeint – fühlte sich aber wie ein Messer im Herzen an: Ich könne doch froh sein, dass es so früh passiert ist, sagte man mir immer wieder.» Doch die wenigsten in ihrem Umfeld hatte Andrea Keller überhaupt über die Schwangerschaft informiert.

Denn vor dem Ende des ersten Trimesters über das werdende Leben im Unterleib zu sprechen, ist in der Schweiz ein grosses Tabu. «Man darf vor dem dritten Monat nicht einmal richtig erzählen, dass man schwanger ist. Wenn man das Kind verliert, heisst es vorwurfsvoll: Wieso redest du überhaupt so früh über die Schwangerschaft? Da ist ja noch gar nichts.» 

Laut Gesetz erst ab der 13. Woche «schwanger»

Jetzt klagt Andrea Keller an: «Dieses Tabu verursacht so viel Leid, wir müssen es endlich aufbrechen!» Eine Frau, die ihr Umfeld nicht in die Schwangerschaft einweihen durfte, sei im Fall eines Frühaborts noch einsamer als ohnehin schon.

Besonders tragisch: Muss eine Frau eine sogenannte Curetage durchführen lassen, die Ausschabung des Kindes, erlebe sie die nächste Hölle: «Die wenigsten Spitäler gehen mit dem Ungeborenen wie mit einem wirklichen Lebewesen um. Es wird einfach entsorgt, weil es ja vor der zwölften Woche gestorben war», erzählt Keller.

Erfahrungen mit einer Fehlgeburt gemacht?

Haben auch Sie, oder jemand auf Ihrem Bekanntenkreis, Erfahrungen mit einer Fehlgeburt gemacht? Wie sind Sie mit diesem Schicksalsschlag umgegangen? Erzählen Sie uns Ihre Geschichte per Mail an community@blick.ch.

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Diese Regelung ist in der Praxis «unsäglich»

Die heute zweifache Mutter – nach den zwei Fehlgeburten erblickte ihre Tochter gesund das Licht der Welt – hört täglich solche Leidensgeschichten. Weil sie damals keine Hilfe fand, gründete sie später den Verein «Schmetterlingsseelen». Einmal im Monat tauscht sie sich in einer Gesprächsgruppe in Baden AG mit Leidensgenossinnen aus und bietet Trauerbegleitungen an.

Doch Keller will nicht nur im Persönlichen helfen. Sie will auch die Politik zum Handeln auffordern. Denn der Gesetzgeber zementiert das Tabu Fehlgeburt per Paragraph. Und zwar im Krankenversicherungsgesetz. Dort ist festgelegt, dass eine Frau erst ab der 13. Schwangerschaftswoche sogenannt kostenbefreit ist. Im Fall von Komplikationen oder einem Verlust des Ungeborenen bleibt sie also nicht nur mit dem seelischen Trauma, sondern auch mit den Kosten zurück.

Dies erlebt Professor Roland Zimmermann, Direktor der Klinik für Geburtshilfe der Universität Zürich, immer wieder. Die Regelung mit der abgeschlossenen zwölften Woche sei in der Praxis «unsäglich», so der Gynäkologe. «Ich bin gespannt, ob das Parlament etwas ändern will.»

Grünen-Nationalrätin Kälin kämpft für die Rechte der Schwangeren

Ändern will das per Motion jetzt Grünen-Nationalrätin Irène Kälin (32). «Schwanger ist man ab dem ersten Tag, auch wenn eine Schwangerschaft in der Regel erst nach wenigen Wochen erkannt wird», sagt die Mutter des zehn Monate alten Elija.

«Es gibt keinen ersichtlichen Grund, wieso die Kostenbefreiung nicht ab jenem Tag gelten soll, der von der Gynäkologin als Tag der Befruchtung nachträglich errechnet wird.» Denn für Frauen wie Andrea Keller bedeutet die versicherungstechnische Unterscheidung zwischen «schwanger» und «krank» Schmerz und Erniedrigung. «Sie erhalten für ihr Unglück von der Krankenkasse auch noch eine Rechnung.»

Und so bewundere sie Frauen, die den Mut haben, ihre Schwangerschaft schon früh mit anderen zu teilen. «Diesen Mut braucht es. So wie es auch den Mut braucht, über Fehlgeburten zu sprechen.» Das eine gehe nicht ohne das andere.

Kälin betont: «Fehlgeburten gehören zu uns Frauen wie das Kinderkriegen Frauensache bleibt. Unerfüllte Kinderwünsche gehören genauso zu uns wie Geburten, die ganz anders waren, als wir uns das erhofft hatten. Wir müssen darüber sprechen, um uns zu helfen.»

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