BLICK: Droht eine Situation wie 2015, als sich Millionen auf den Weg nach Europa machten?
Erich Gysling: Momentan ist das Spekulation. Ich glaube aber nicht, dass sich die Situation entwickelt wie damals. Erdogan sagte den Migranten, die Grenze nach Griechenland sei offen. Das stimmte auch für die türkische Seite. Dass die Griechen sofort Stacheldraht ausrollen, hat den Flüchtlingen und Migranten aber niemand gesagt.
Sie meinen, die Migranten erwarteten keine Gegenwehr der Griechen?
Hätten die gewusst, dass sie in Griechenland mit Tränengas empfangen werden – sie hätten sich gar nicht in Bewegung gesetzt. Das war eine Gemeinheit von Erdogan, er zettelte damit eine humanitäre Tragödie an. Flüchtlinge, die das nun sehen, werden sich garantiert nicht auf den Weg Richtung Westen machen. Eine Sogwirkung wie 2015 dürfte also nicht entstehen.
Was kann man gegen diese «humanitäre Tragödie» unternehmen?
Eine schnelle Lösung gibt es nicht. Die Situation zeigt aber das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik. Osteuropa stellt sich beim Verteilen von Flüchtlingen quer, das ist eine Illoyalität gegenüber Westeuropa. Gleichzeitig hat die Türkei fast 3,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen und sagt, man habe die Kapazitätsgrenze erreicht. Das stimmt wohl eben auch. Dass sich Erdogan im Syrien-Konflikt in eine Sackgasse manövriert hat, ist jedoch seine eigene Schuld.
Das ist aber kein Lösungsansatz.
Wir können keine 3,4 Millionen Menschen aufnehmen. Dass die EU-Aussengrenze wie 2015 geöffnet wird, ist eher unwahrscheinlich – die politischen Folgen waren damals massiv. Eigentlich wollen die Syrer, die in der Türkei festsitzen, ja nach Hause nach Syrien. Es braucht darum eine politische Lösung. Alle wissen: Assad hat den Krieg gewonnen. Wir müssen uns damit arrangieren. Von heute auf morgen geht das aber nicht.
Erich Gysling (83) ist Journalist und Nahost-Experte.
Sondersendung zur Krise an der EU-Grenze ab 8 Uhr auf Blick TV.