Kampf um Klimaneutralität
Schweizer Städte fahren jetzt schweres Geschütz auf

Die Schweiz muss klimaneutral werden. Entscheidend sind die Städte – und die fahren schweres Geschütz auf. Schaffen sie die Wende?
Publiziert: 27.08.2023 um 19:24 Uhr
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Aktualisiert: 27.08.2023 um 19:26 Uhr
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Stadträtin Sandra Maissen will eine neue Biogasanlage, ein neues Wasserkraftwerk und ein neues Windrad für Chur.
Foto: Philippe Rossier
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Danny SchlumpfRedaktor SonntagsBlick

In Chur GR steht das erste Solarfaltdach der Welt – über den Klärbecken der Abwasserreinigungsanlage (ARA), die mit dem grünen Strom 20 Prozent ihres Energiebedarfs deckt. Doch das reicht den Churern nicht: Sie wollen die ARA energieautark machen – und gleich nebenan ein Biogaswerk bauen.

Ein Windrad hat Chur schon. Es liefert Strom für 3000 Haushalte. Jetzt liegen Pläne für ein zweites Rad zur Vorprüfung beim Kanton. Auch am Berg tut sich etwas: Zwischen die beiden bestehenden Wasserkraftwerke unterhalb von Arosa stellt Chur wohl bald ein drittes hin.

Damit nicht genug: Bis 2040 wollen die Stadtwerke ihre Kunden klimaneutral mit Energie versorgen – über ein umfassendes Wärme- und Kältenetz, dem die Churer Stimmbevölkerung im März den Segen gab.
Die Grossprojekte sind Teil eines neuen Masterplans, mit dem die Bündner Hauptstadt den Klima-Turbo zündet. Das Ziel: Netto-Null bis 2050. Kostenpunkt: eine halbe Milliarde Franken, davon 150 Millionen zulasten der Stadtkasse. «Der aktuelle Hitzesommer hat die Dringlichkeit des Klimaschutzes erneut aufgezeigt», sagt Stadträtin Sandra Maissen. «Wir dürfen keine Zeit verlieren.»

Chur muss Rückstand aufholen

Denn Chur muss aufholen. Die CO2-Emissionen der Stadt betragen 5,7 Tonnen pro Kopf und Jahr. Das sind 1,4 Tonnen mehr als der Schweizer Durchschnitt. Schuld daran sind vor allem die vielen Öl- und Gasheizungen, weshalb die Stadt nun massiv in die Fernwärme investiert. Sandra Maissen: «Wir setzen dort an, wo wir mit dem vorhandenen Geld in kurzer Zeit viel bewegen können.»

Chur ist eine von 475 Schweizer Energiestädten, die zusammen zwei Drittel der Bevölkerung beherbergen. Diese Städte unterziehen sich einem umfassenden Energieprogramm und einer regelmässigen Bewertung von Zielen und Massnahmen in den Bereichen Gebäude, Wärme, Strom, Wasser und Mobilität. «Wir überprüfen und bewerten regelmässig, wie gut sie die Vorgaben erfüllen», sagt Maren Kornmann, Geschäftsführerin des Trägervereins Energiestadt. «Sehr viele Städte sind auf einem sehr guten Weg.»

Lausanne geht voran

Dass Lausanne mit einem Erfüllungsgrad von über 90 Prozent an der Spitze der Rangliste steht, ist kein Zufall. Seit 2005 hat die Stadt 26 Prozent der Treibhausgas-Emissionen reduziert. Heute liegt der jährliche Ausstoss bei 3,3 Tonnen pro Kopf. Auch deshalb, weil Lausanne das gewichtige Thema Mobilität mit Wucht angeht: Die Waadtländer verfügen über ein hochkarätiges ÖV-System und überziehen ihr Stadtgebiet mit Ladeinfrastrukturen für Elektrofahrzeuge. Bis 2030 wollen sie sämtliche Verbrenner-Autos verbannen.

Schneller als andere haben die Lausanner auch begriffen, dass der Klimawandel längst da ist. Deshalb haben sie umfassende Anpassungsstrategien beschlossen. Bis 2040 pflanzt die Stadt 25'000 Bäume. Hinzu kommen die Entsiegelung von Asphaltflächen, die Begrünung von Gebäuden und der Einsatz des Schwammstadt-Prinzips, bei dem Regenwasser gespeichert und genutzt wird.

Basel strebt nach Netto-Null

Auch Basel ist im Klimafieber. Der CO2-Ausstoss pro Kopf und Jahr liegt bei 3,1 Tonnen. Die erneuerbaren Energien decken bereits 44 Prozent des Gesamtverbrauchs. Vor einem Jahr hat die Stimmbevölkerung das Netto-Null-Ziel bis 2037 beschlossen. Bis 2035 legt der Stadtkanton das Gasnetz still und gibt eine halbe Milliarde Franken für den Ausbau des Fernwärmenetzes aus. Bis Ende 2026 werden 170 Quartierladestationen und 30 Stationen für beschleunigtes Laden installiert.

Das Basler Stadtklima-Konzept etabliert diverse Anpassungsmassnahmen wie das Schwammstadt-Prinzip. 80 besonders heisse und vielbesuchte Plätze werden künftig mit mobilen Elementen beschattet. Über der Basler Einkaufsmeile Freie Strasse sollen bald Sonnensegel hängen. 1000 städtische Gebäude werden begrünt.

«Die treibenden Kräfte für raschen Klimaschutz sind die urbane Bevölkerung, die Wissenschaft und globale Konzerne», sagt der Basler Regierungspräsident Beat Jans. «Alle drei sind vor allem in den Kernstädten zu Hause.» Deshalb sei es nur logisch, dass die Städte im Klimaschutz vorangingen. «Viele erfolgreiche Innovationen sind von den Städten ausgegangen.»

Ambitiöse Ziele

Immer mehr Schweizer Städte präsentieren jetzt fixe Energie- und Klimapläne mit konkreten Massnahmen. Sie sind ambitiös: Zürich und Winterthur wollen schon 2040 klimaneutral sein. In Bern soll der jährliche CO2-Ausstoss pro Kopf bis 2035 auf eine Tonne sinken. St. Gallen will den Veloverkehr bis 2040 verdoppeln, die ÖV-Nutzung soll um 50 Prozent und der Fussverkehr um 33 Prozent zunehmen.

Schaffen die Städte das wirklich? «Es sind sehr grosse Herausforderungen», sagt Maren Kornmann vom Trägerverein Energiestadt. «Doch diese Ziele sorgen für politische Verbindlichkeit. Die Städte wollen das. Wie gut es gelingt, hängt aber auch von den nationalen und kantonalen Rahmenbedingungen ab – und von der Bereitschaft der Bevölkerung, dabei mitzuziehen.»

Da können auch kleine Städte punkten. So ziehen im Bierstädtchen Rheinfelden AG Gewerbe, Verwaltung und Private an einem Strick. Die Stadt stellt ein Fernwärmenetz bereit. Eine grosse Elektrolastwagen-Flotte sorgt für klimaneutrale Getränkelieferungen. Und Esswaren, die sich nicht verkaufen lassen, werden verteilt.

Rasches Handeln ist unabdingbar

In Glarus, wo fossile Ersatzheizungen seit Anfang 2023 verboten sind, gehören 30 Prozent kostenneutrales Biogas zum Standardprodukt im Wärmemarkt. Stans NW hat die Schule zu einer Energieschule gemacht – und integriert damit die Jüngsten in die umfassenden Klima-Aktivitäten der Energiestadt, die einen Erfüllungsgrad von über 81 Prozent erreicht.

Netto-Null bis 2050? Immer mehr Schweizer Städte arbeiten ernsthaft auf dieses Ziel hin – und das ist unabdingbar. Denn: «Die Frage der Klimaneutralität entscheidet sich in den Städten und Agglomerationen», sagt Anders Stokholm, Präsident des Schweizerischen Städteverbands.

Er sagt aber auch: «Uns läuft die Zeit davon. Der Klimawandel akzentuiert sich.» Heisst: Klimaschutz-Massnahmen allein reichen nicht mehr. «Die Städte müssen jetzt auch rasch Anpassungen an den Klimawandel vornehmen», so Stokholm. Das Bewusstsein dafür sei vorhanden. «Nach diesem Hitzesommer ist das Thema mit Sicherheit in jeder Stadtregierung angekommen.»

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