Die Aussagen der Co-Leiterin der Zürcher Beratungsstelle Castagna warfen Ende 2021 hohe Wellen. Auf die Frage, ob es «satanischen rituellen Missbrauch in der Schweiz» gebe, antwortete Regula Schwager in der SRF-Reportage «Der Teufel mitten unter uns»: «Die Realität ist, dass sehr, sehr, sehr viele Menschen von genau diesen Formen von Gewalt, die sie im frühen Kindesalter erlebt haben sollen, erzählen und dass sie Traumafolgestörungen haben, die darauf hinweisen, dass diese Erzählungen stimmen.» Castagna ist eine Beratungs- und Informationsstelle «für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen und Männer». Berichtet werde von Tieropfern, sogar von «menschlichen Wesen», die geopfert würden, von Tätern in Masken, von Feuern und verbrannten Katzen. Sie habe keine Veranlassung, an diesen Schilderungen zu zweifeln. Die Täterkreise hätten Kunden, die an diesen Ritualen teilnehmen würden – Kunden mit viel Geld, die «nicht unbedingt der untersten Gesellschaftsschicht angehören».
Bereits 2005 hatte sich Regula Schwager in einem Artikel im «Tages-Anzeiger» ähnlich geäussert: «Wir betreuen Frauen, die tatsächlich Opfer von schlimmen Ritualen in satanistischen Zirkeln geworden sind.» Die wenigsten würden es wagen, sich bei einer Zeitung zu melden. Zudem, so Schwager, seien oft gut situierte, angesehene Personen in solchen Zirkeln aktiv.
Nach Erscheinen des SRF-Beitrags Ende 2021 gingen 70 Beschwerden bei der Ombudsstelle von SRF ein. Auch Regula Schwager beschwerte sich, ihre Aussagen seien aus dem Zusammenhang gerissen worden. Auch heute hält sie weiterhin fest: «Leider wurden in der Vergangenheit das eine und andere Mal kontextualisierte Aussagen von Exponenten des Vereins Castagna fragmentiert wiedergegeben. So auf Websites oder in Sendungen. Deren Verwendung war so nie autorisiert.»
Vom Kanton Zürich subventioniert
Die Ombudsstelle von SRF kam nach ihrer Analyse zu einem anderen Urteil: Die Journalistinnen und Journalisten seien «mit Sorgfalt ans Werk gegangen» und «haben sich fair und korrekt verhalten». Die «Dynamik von Verschwörungserzählungen» werde «treffend analysiert». Und es sei sinnvoll, vor «false memory» zu warnen. Kurz: «Das Sachgerechtigkeitsgebot gemäss RTVG ist erfüllt.»
Castagna, allein im Jahr 2022 vom Kanton Zürich mit 862’210 Franken subventioniert, berief aufgrund des SRG-Beitrags eine ausserordentliche Vorstandssitzung ein, engagierte eine Medienanwältin und einen Krisenkommunikationsexperten.
Bei der Zürcher Opferhilfe wiederum, die die Aufsicht über Castagna hat und für deren Finanzierung zuständig ist, gingen kritische Fragen zur Verwendung von Steuergeldern ein. Man gab eine externe Untersuchung in Auftrag. Analysiert wurde, ob Castagna die gesetzlichen Bestimmungen und kantonalen Vorgaben einhält, insbesondere in Fällen sexueller Ausbeutung von Kindern durch mehrere Täter.
Expertin für Traumafolgestörung ist Anhängerin der «Rituellen Gewalt Mind Control»-Theorie
Der Mitte 2022 abgeschlossene Bericht liegt dem Beobachter vor. Er stellt Castagna und ihren Mitarbeiterinnen ein «sehr gutes Zeugnis» aus. Doch wie Recherchen des Beobachters nun zeigen, wurden wichtige Aspekte gar nicht untersucht. So pflegt Castagna bis heute eine enge Beziehung zu Michaela Huber. Die umstrittene deutsche Psychotherapeutin, die seit rund 20 Jahren als Expertin für Traumafolgestörungen gilt und der «Rituellen Gewalt Mind Control»-Theorie anhängt, sitzt seit über zehn Jahren im Beirat von Castagna. Sie schrieb auch eine Lobrede zum 20-Jahre-Jubiläum 2012 – «Liebe Castagnetten, …» – und spendete eine selbst besungene CD. Castagna organisierte zudem wiederholt Fachtagungen mit der deutschen Psychotherapeutin.
Michaela Huber glaubt etwa, dass es Opfer ritueller Gewalt und von «Mind Control» gebe, die übersinnliche Kräfte haben – oder die Augenfarbe wechseln, je nachdem, welcher Bewusstseinsanteil gerade die Oberhand hat. Bei der sogenannten «Rituellen Gewalt Mind Control»-Theorie sollen geheime Täterkreise bei ihren Opfern Bewusstseinsanteile abspalten und so eine sogenannte dissoziative Identitätsstörung auslösen. Über diese quasi gekaperten Bewusstseinsanteile sollen sie ihre Opfer kontrollieren, um sie zu kultischen Zwecken schreckliche Dinge tun zu lassen. Fachleute wie der Psychotraumatologe Thomas Maier und der forensische Psychiater Frank Urbaniok sehen in dieser Theorie, der in der Schweiz zahlreiche Therapeuten und Psychiater folgen, eine Verschwörungserzählung (siehe «Die wichtigsten Begriffe rund um ‹Rituelle Gewalt Mind Control›»). Und Erich Seifritz, Präsident der gesamtschweizerischen Vereinigung der psychiatrischen Kliniken und Dienste Swiss Mental Health Care (SMHC), spricht in diesem Zusammenhang von «hochproblematischen Nebenwirkungen», die «in gewissen Fällen sogar Kunstfehler» sein können.
«Bauchwehfälle» und unvollständiger Jahresbericht von Castagna
Bei der externen Untersuchung, die die Zürcher Opferhilfestelle nach Ausstrahlung der SRF-Reportage in Auftrag gegeben hatte und die allfällige Missstände aufdecken sollte, wurden Interviews mit den Angestellten geführt. Zudem wurden 35 Dossiers – von insgesamt über 6000 Dossiers der letzten fünf Jahre – ausgewählt und davon wiederum 25 evaluiert. Die Auswahl sei laut Bericht durch eine «zufällige Stichprobenziehung» erfolgt, wobei man «auf Dossiers mit sexueller und organisierter Gewaltanwendung fokussiert» habe.
«Unser Auftrag und unsere Erhebungen hatten einen klaren sozialarbeiterischen Approach. Damit waren andere Themen ausgeschlossen», sagt Andreas Dvorak, Mitinhaber und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Beratungsfirma Socialdesign, die den Bericht erstellt hat. Pikantes Detail: Die Liste der passenden Fälle hat Castagna in Eigendeklaration erstellt, wie Dvorak bestätigt. Darin enthalten seien auch die von der Auftraggeberin, also von der Opferhilfe Zürich, gemeldeten «Bauchwehfälle», gewesen.
«Eine Personenüberprüfung war nicht Teil unseres Auftrags», sagt Andreas Dvorak. Man sei auch kein Expertenteam betreffend sexualisierte/ritualisierte Gewalt. «Leider lag uns der Jahresbericht nicht gänzlich vor. So wussten wir nichts vom Beirat. Sonst wäre uns Michaela Huber aufgefallen.» Man habe überdies die unzureichende Transparenz der Jahresberichte bemängelt.
Tatsächlich ist es gemäss Opferhilfegesetz nicht die Aufgabe von kantonalen Opferhilfestellen, die Beratungsarbeit der einzelnen Beratungsstellen zu kontrollieren. «Sie müssen unabhängig beraten können, insbesondere sollen sie nicht der fachlichen Weisungsgewalt einer Verwaltungsbehörde unterstehen», sagt Sandra Müller, die Geschäftsführerin der Opferhilfe Zürich, dazu. «Der Prüfauftrag musste sich auf die im kantonalen Leistungsvertrag festgehaltenen Punkte beschränken.»
Von Ideologien, Programmierungen, Codewörtern und Hautmalen
Wie problematisch die enge Beziehung der Beratungsstelle Castagna zur umstrittenen Psychotherapeutin Michaela Huber ist, zeigt ein Bericht von Bianca Liebrand. Die Sektenexpertin von Sekten-Info Nordrhein-Westfalen hat 2020 in ihrem Aufsatz «Zersplitterung nach Therapie» die «Rituelle Gewalt Mind Control»-Theorie unter die Lupe genommen. Ihr Fazit: «Bei der ‹Rituellen Gewalt Mind Control›-Theorie handelt es sich um eine Ideologie. Denn nach dem wissenschaftlichen Anspruch können die Annahmen dieser Theorie nicht verifiziert werden. Es handelt sich lediglich um Spekulationen, für die es in Teilen durchaus nachvollziehbare Argumente gibt. Nicht der Glaube an diese Ideologie ist allerdings der bedenkliche Aspekt. Kritisch ist zu sehen, dass daraus eine Therapieform für psychisch instabile Menschen entwickelt wurde, die auf vielen Spekulationen basiert.»
Liebrand zitiert auch aus Hubers Publikationen, darunter aus dem Buch «Multiple Persönlichkeiten. Seelische Zersplitterung nach Gewalt» von 2010. So soll nach Hubers Ansicht allein das Aufrufen eines Codewortes dafür sorgen, dass ein «Mind Control»-Opfer anderen Lebewesen körperliche und seelische Gewalt antut, lächelnd um Sex bittet oder sich selbst tötet. Die Täter würden in ihren Opfern «Therapiestörprogramme» anlegen, die eine erfolgreiche Therapie verhindern sollen. Huber listet ganze elf Programme auf, die als Verhaltensanweisungen für Therapiesitzungen zu verstehen sind.
Falls die Patientin an der Therapie zweifelt, wird das als Beweis für die Programmierung gewertet. Zudem glaubt Psychotherapeutin Huber, dass frühere Misshandlungen «plötzlich als ‹Male› auf der Haut auftauchen wie Narben, Brandblasen, Schnitte, Schürfwunden, Brandstellen, Würgemale» und Patientinnen mit einer dissoziativen Identitätsstörung übersinnliche Fähigkeiten hätten. Schliesslich empfiehlt sie, keine Traumaarbeit am Geburtstag der Patientin oder an (satanistischen Kult-)Feiertagen abzuhalten.
Die Anfrage zur Stellungnahme zu diesen Therapieinhalten beantwortete nicht Michaela Huber selbst oder ihre Presseverantwortliche, sondern eine «Aushilfe fürs Housekeeping und Notfälle»: Frau Huber und die Geschäftsleitung seien wie immer um diese Zeit im Jahresurlaub. Es sei jetzt leider niemand da, um die Fragen zu beantworten.
Weiterbildungen bei Ideologie-Anhängerin
Castagna besteht aus zwei Vereinen, einem für das Tagesgeschäft zuständigen Beratungsverein und dem Förderverein, dessen Aufgabe die «ideelle und finanzielle Unterstützung der Beratungsstelle» ist. In beiden Vereinsvorständen haben nicht nur die beiden Co-Leiterinnen Regula Schwager und Nadia Beier Einsitz – was der externe Bericht wegen mangelnder Corporate Governance bemängelt –, sondern auch weitere Therapeutinnen, die auf ihren Websites Michaela Huber als ihre Weiterbildungsdozentin aufführen.
Von den fünf Frauen im Beratungsverein hat nur eine einzige nicht nachweislich eine Weiterbildung bei Michaela Huber besucht. Im Vorstand des Fördervereins trifft das auf zwei von fünf Mitgliedern zu.
«Im Laufe der jahrelangen beruflichen Arbeit lernt man viele Berufskolleginnen und Berufskollegen kennen. Daraus kann keine Nähe zu Theorie und Lehre einzelner Fachexperten abgeleitet werden», sagen die beiden Co-Leiterinnen Schwager und Beier, stellvertretend auch für die beiden Vorstandspräsidentinnen. Im Rahmen der durch Mitarbeiterinnen von Castagna durchgeführten Fallbehandlungen werde von «sexueller Ausbeutung» gesprochen, ganz vereinzelt von sexueller Gewalt durch Gruppen. Das Wort «satanistisch» komme im Sprachgebrauch der Mitarbeiterinnen von Castagna nicht vor.
Und was sagt Sandra Müller, Geschäftsführerin der Opferhilfe Zürich? «Wir nehmen die Resultate der Beobachter-Recherche zum Anlass für eigene Nachforschungen, insbesondere bezüglich der Rolle und des Profils von einzelnen Vorstands- und Beiratsmitgliedern. Dazu benötigen wir die Unterstützung von externen Fachpersonen aus den Bereichen Psychologie/Psychiatrie.» Man sei aktuell daran zu evaluieren, wer dafür in Frage komme.
In eigener Sache
Der Beobachter will in keiner Art und Weise Missbrauchsopfer, Patientinnen und Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung oder Traumatherapeutinnen und -therapeuten generell in Frage stellen. Dem Beobachter geht es in der Berichterstattung darum, problematische Ideologien wie «rituelle Gewalt Mind Control», Satanic-Panic-Verschwörungserzählungen im Umfeld der Traumatherapie und die Verflechtungen deren Vertreter mit Beratungs- und Therapieangeboten öffentlich zu machen. Zum Schutz der Opfer von Missbräuchen und zum Schutz wissenschaftlich orientierter Traumatherapeutinnen und -therapeuten.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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