Eines vorweg: Mit einer Redaktionskollegin ein Interview zu führen, ist seltsam. Umso mehr, wenn sie ein derart atemberaubendes Buch geschrieben hat. Wie Silvia Tschui. «Der Wod» ist eine Familiensaga, die sich wie ein verworrenes Netz von Nordostdeutschland in die Schweiz spannt. Es geht um Nazis, Freimaurer, Uhrmacher und Menschen mit unsichtbaren Verletzungen. Das Buch ist ein Wirbelsturm – es reisst einen fort und lässt einen verhuddlet zurück. Aber man soll ja kritisch sein als Journalist, auch wenn es die Kollegin betrifft. Mitten in diese Gedanken und in die aufkommende Beklommenheit ruft Silvia Tschui zehn Minuten vor dem vereinbarten Telefongespräch an.
Silvia Tschui: Ich bin bereit.
Okay, ich eigentlich nicht. Ist das deine Art, Interviewer aus dem Konzept zu bringen?
Komm, tu nicht so. Soll ich später anrufen?
Nein, fangen wir an. Ich wollte dir als Erstes danken.
Wofür?
Ich habe jetzt das Gefühl, dass ich weiss, wie sich eine Geburt anfühlt.
Im Ernst?
Du schreibst: «Die Lilli zerreisst es, es sprengt ihr das Rückenmark, ein Universum aus Schmerz.» Von dieser Szene habe ich mich lange nicht erholt.
Jö, du Schneeflöckli! Nein, das ist jetzt vielleicht unpoetisch – und ich will auch nicht in die Details gehen, aber etwa so fühlte sich die Geburt meines Sohnes an. Und ich hatte eine PDA!
Würdest du widersprechen, wenn ich sagen würde, die Beschreibung von Schmerz, Gewalt und Wut sei deine ganz grossen Stärke?
(Lacht.) Das ist meine einzige Stärke?
In deinem ersten Buch «Jakob’s Ross» kommen drastische Gewaltszenen vor, und auch deine besten journalistischen Texte entstehen aus Wut. Du hast im SonntagsBlick Magazin fünf Seiten über Pieps-Geräusche geschrieben, die dich in den Wahnsinn treiben.
Also, was stimmt: Empathie- und Rücksichtslosigkeit machen mich übergebührlich wütend. Nur schon Littering. Warum schafft man es hierzulande nicht, wie in Singapur, drakonische Geldstrafen für Abfallgrüsel zu verteilen? Ich bin ja eigentlich ziemlich weit aussen links, aber ich bin auch ganz dafür, dass sich die Menschen gopfertelli benehmen sollen. Aber Wut überdeckt ja eigentlich nur Trauer.
Was macht dich denn traurig?
Der Zustand dieser Welt, in der ich meinen Sohn grossziehe. Es gibt so viele Ungerechtigkeiten, dass ich manchmal schier daran verzweifle. Alles in dieser Welt scheint auf Verdrängung und Kosten anderer zu gehen. Leider ist das allertiefst in allem Leben drin: Schon eine Amöbe hat bessere Überlebenschancen, wenn sie eine andere verdrängen kann. Leben geht also rein biologisch schon auf Kosten eines anderen Lebens. Wenn jemand ein solches System erfunden hätte, müsste dieser Jemand vor Gericht stehen.
Herrgott, Silvia, jetzt müssen wir schleunigst die Kurve kriegen …
(lacht) … sonst wird das ein sehr depressives Gespräch!
Dein neuer Roman ist ein Familienepos, der sich über mehrere Jahrzehnte von Norddeutschland in die Schweiz spannt. Wann wusstest du, dass du ihn schreiben musst?
Als ich das Bild von diesem ertrunkenen, an den Strand gespülten Flüchtlingskind sah.
Alan Kurdi. Darf ich fragen, wieso?
Mein Sohn Max war damals im selben Alter wie Alan. Ich konnte nicht aufhören, mir vorzustellen, was das mit mir anrichten würde, wenn ich mein Kind auf der Flucht nicht davor schützen könnte, jämmerlich zu ertrinken. Plötzlich wurde mir klar, dass wir in Europa nur zwei, drei Generationen zurück müssen – und wir finden dieselben Schicksale, dieselben durch Flucht, Vertreibung und Tod verursachten Wunden, die sich über Generationen weitergeben.
Wie viel deiner eigenen Familiengeschichte steckt da drin?
Es gibt schon gewisse Parallelen. In meiner Familie in Deutschland gibt es ebenfalls Fluchtschicksale. Aber grundsätzlich ist das alles erfunden.
Das ist alles?
Natürlich fliesse ich in jede Person ein. Wenn ich beschreibe, wie der Verlust von Charlottes Grossmutter sich wie ein unsichtbares Loch in der Brust anfühlt, das nicht verarztet werden kann, dann ist das mein Gefühl in einer anderen Person. Genau so habe ich das erlebt, als meine über alles geliebte Grossmutter verstarb. Was meine Charaktere durchleben, spüre ich am eigenen Leib. Wenn ich schwierige Szenen schreibe, bin ich danach komplett erschöpft und muss sofort schlafen gehen.
Im Schauspiel spricht man von Method Acting, wenn der Schauspieler sich in seinen Charakter verwandelt. Du betreibst quasi Method Writing!
Also, ich will jetzt hier nicht übersensibel tun und mich als Opfer meines Schreibens hinstellen. Und man muss sich allerstrengstens verbieten, in Kitsch und Gefühlsduselei abzudriften, sondern einfach schreiben, was ist.
Was sagst du den Kollegen deines Sohnes, wenn sie nach deinem Job fragen?
Ich schreibe. Für die Zeitung und für Bücher.
Ich frage, weil du auch Grafikdesignerin, Animationsfilmerin, Illustratorin, Lehrerin und Kabarettistin bist.
Ach, ich habe einmal ein Gesangs-Kabarett-Programm geschrieben, das ich ungefähr zehn Mal aufgeführt habe. Das muss ich jetzt mal aus meinem Wikipedia-Eintrag streichen. Das waren einfach alles Abschnitte. Mit dem Schreiben habe ich meine Ausdrucksform gefunden. Und Lehrerin werd ich dann wieder, wenn ihr mir nicht bald eine Gehaltserhöhung gebt! (lacht) Hörst du den drohenden Unterton? Aber von meiner Zeit im Animationsfilm fliesst sicher einiges in die Bücher ein. Das filmische Denken zum Beispiel. Illustriert hab ich auch schon lange nicht mehr. Obwohl mein letztes Projekt recht lustig war.
Was war das?
(Lacht.) Das Büchlein hiess «Aus diversen Gründen nicht vollzogene Sexualakte – ein Panoptikum des Grauens». Das war aber in einem Altersabschnitt, bevor wir alle Eltern und brav und müde geworden sind. Ich habe Freunde und wildfremde Leute gefragt, wie sie sich aus sich anbahnendem Geschlechtsverkehr im letzten Moment wieder rausgeredet haben und weshalb. Die Menschen haben mir Geschichten erzählt, das kannst du dir nicht vorstellen.
Erzähl eine!
Aber doch nicht in einer Familienzeitung, die am Sonntag erscheint! Wo denkst du hin!
Es gibt diese surreale Szene im Buch, in der die Figur Nis, bis unters Dach voll mit Kartoffelschnaps, halb halluzinierend, in den Nachkriegs-Trümmern von Berlin zu dirigieren beginnt. Und dann wachsen Gebäude aus Schutt und Asche hoch, die er dann mit einem Fingerzeig wieder einstürzen lässt. Wie viel Silvia Tschui steckt da drin?
Hä? Wie meinst du das?
Zerstörst du gerne? In deinen «Tatort»-Kolumnen bist du manchmal sehr, sehr hart mit den Drehbuchautoren.
Ein «Tatort» steht und fällt mit einer guten Story. Wenn dieselben Nasen, die schon viele Folgen des Luzerner «Tatorts» verbaut haben, nun auch den Zürcher «Tatort» schreiben, dann ist ja klar, dass das nicht funktioniert. Ich glaube aber, dass ziemlich oft die Drehbuchautoren vielleicht gar nicht schuld sind, sondern dass denen im SRF einfach tausend Leute zu viel dreinreden. Aber das steht ja alles nur in einer Kolumne, das soll man auch nicht zu wichtig nehmen. Überhaupt wäre die Welt ein besserer Ort, wenn nicht alle sich und ihre Meinung so derart wichtig nehmen würden.
Dein erstes Buch «Jakob’s Ross» wird auch bald verfilmt.
Ja! Hurra! Im Frühling 2022 beginnen die Dreharbeiten.
Freust du dich darauf oder macht es dir Mühe, dieses Buch aus der Hand zu geben?
Ja, ich freu mich, und: nein, gar nicht. Die Macher der Schweizer Produktionsfirma Turnus Film haben mich gefragt, ob ich das Drehbuch selber schreiben wolle. Das habe ich abgelehnt. Ich war mir bewusst, dass das ein anderer Job ist. Ausserdem hab ich schon das Buch von 400 auf gut 200 Seiten runter gekürzt. Noch mehr kürzen hätte ich nicht geschafft.
Schon in deinem ersten Roman spielten Dialekte eine wichtige Rolle. Jetzt kommen norddeutsche Wörter dazu. Hast du ein Lieblingswort?
Ich mag «min Lütt» – für «mein Kleiner». Das ist sehr liebevoll.
Du hast dein Buch deinem Sohn Max gewidmet. Wie wirkt er auf dein Schreiben ein?
Rein praktisch sehr hinderlich (lacht). Aber eigentlich schreibe ich für ihn. Man hat ja eine komische Rolle als Mutter. Ich versuche, Max zu einem anständigen Menschen zu erziehen, mit Sinn für Fairness, guten Umgangsformen und einer guten Arbeitsmoral. Das geht manchmal etwas auf Kosten von Humor.
Das kann ich mir echt nicht vorstellen.
Doch. Mein Sohn kennt zum Beispiel meinen teilweise wirklich derben, anarchischen Humor kaum. Wenn mir mal aus Versehen ein «Scheisse» rausrutscht, ist er total schockiert. Ihm will ich zuerst beibringen, wie man sich benimmt, bevor er lernt, wie lustig Furzwitze sind (lacht). Wenn er dann mal meine Bücher liest, lernt er eine ganz andere Seite seiner Mutter kennen.
Der am Mittwoch im legendären Rowohlt Verlag erscheinende zweite Roman von Silvia Tschui entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann: Ein dahingesagter Satz auf einer Geburtstagsfeier lässt alte Wunden und Verletzungen aufbrechen. Jahrzehnte zuvor bei Kriegsende, auf der Flucht zweier Brüder aus Norddeutschland, ist etwas passiert, das nie vergeben wurde. Die Geschichte der schweizerisch-deutschen Familie, um die es hier geht, spannt sich von den Weiten Norddeutschlands bis in die Enge der Schweizer Voralpentäler. Silvia Tschui verwebt Epochen, Charaktere und Milieus miteinander und lässt eine von Freimaurern, Nazis und Widerständlern, von Grossbürgern und Hell’s Angels bewohnte Welt entstehen. Immer wieder taucht da der titelgebende Wod auf, der wilde Jäger aus der norddeutschen Sage, der einen ein Leben lang nicht loslässt.
Silvia Tschui, «Der Wod», Rowohlt
Der am Mittwoch im legendären Rowohlt Verlag erscheinende zweite Roman von Silvia Tschui entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann: Ein dahingesagter Satz auf einer Geburtstagsfeier lässt alte Wunden und Verletzungen aufbrechen. Jahrzehnte zuvor bei Kriegsende, auf der Flucht zweier Brüder aus Norddeutschland, ist etwas passiert, das nie vergeben wurde. Die Geschichte der schweizerisch-deutschen Familie, um die es hier geht, spannt sich von den Weiten Norddeutschlands bis in die Enge der Schweizer Voralpentäler. Silvia Tschui verwebt Epochen, Charaktere und Milieus miteinander und lässt eine von Freimaurern, Nazis und Widerständlern, von Grossbürgern und Hell’s Angels bewohnte Welt entstehen. Immer wieder taucht da der titelgebende Wod auf, der wilde Jäger aus der norddeutschen Sage, der einen ein Leben lang nicht loslässt.
Silvia Tschui, «Der Wod», Rowohlt
Silvia Tschui (47) war in ihrem Leben schon Lehrerin, Illustratorin, Kabarettistin. Als Animationsfilmerin wurde sie 2004 für den British Animation Award nominiert. Ihr erster Roman «Jakob's Ross» (2014) war ein Bestseller, wurde fürs Theater adaptiert und wird im Frühling 2022 verfilmt. Silvia Tschui arbeitet als Journalistin fürs SonntagsBlick Magazin. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.
Silvia Tschui (47) war in ihrem Leben schon Lehrerin, Illustratorin, Kabarettistin. Als Animationsfilmerin wurde sie 2004 für den British Animation Award nominiert. Ihr erster Roman «Jakob's Ross» (2014) war ein Bestseller, wurde fürs Theater adaptiert und wird im Frühling 2022 verfilmt. Silvia Tschui arbeitet als Journalistin fürs SonntagsBlick Magazin. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.