Manhattan, New York. Hier, wo das Coronavirus im Frühjahr besonders gewütet hat, sitzt Harvard-Professor Felix Oberholzer-Gee (59) zum BLICK-Interview vor seinem Computer. «Es war wirklich dramatisch», erzählt der Harvard-Professor. «Jetzt sind die Fallzahlen tief. Aber wir haben in manchen Vierteln immer noch Menschen, die grösstenteils keine Maske tragen wollen.» Das wundere ihn immer wieder. «Es ist verrückt, wie die Leute nach fünf, sechs Monaten immer noch nicht kapieren, worum es geht und wie dramatisch es wirklich ist.» Schwer zu verstehen für jemanden, dessen Welt Zahlen, Daten und daraus abgeleitete Strategien sind ...
Donald Trump hat bei der Präsidentschaftsdebatte behauptet, unter ihm gab es die «grossartigste Wirtschaft der Geschichte» – zumindest bis zur Pandemie. War wirklich alles gut, bis Corona kam?
Es waren sieben, acht goldene Jahre – natürlich vor dem Hintergrund der grossen Wirtschaftskrise, die in den USA besonders schlimm war. Vor allem in den letzten drei Jahren vor der Pandemie stiegen endlich auch die Löhne für Leute, die keine tolle Ausbildung haben. Und es gab mehr Jobs, für die man wenig Qualifikationen braucht. Damit sank die Arbeitslosigkeit.
Ist das Trumps Verdienst?
Nein. Die Wirtschaftslage war wirklich ausgezeichnet, davon hat er profitiert. Wenn man die letzten drei Jahre Obama mit den ersten drei Trump-Jahren vergleicht, dann sind die beiden sich sehr ähnlich: Trump hatte ein bisschen höheres Wachstum, Obama hat mehr Jobs generiert.
Was hat Trump konkret für die Wirtschaft getan?
Ein US-Präsident hat eigentlich immer nur ein kleines Fenster, in dem er handeln kann. Das sind die ersten beiden Jahre. Denn typischerweise kippt bei den Zwischenwahlen das Repräsentantenhaus, und wenn der Kongress gespalten ist, lassen sich selbst gute Ideen kaum noch verwirklichen. Deswegen haben sich die Republikaner unter Trump gleich am Anfang so auf die Steuersenkung konzentriert. Ausser dieser ist aber nicht viel passiert.
Damals ging es der Wirtschaft gerade super. Im Prinzip haben die Republikaner mit den Steuersenkungen gegen alle Regeln der Fiskalpolitik kräftig Staatsgeld in loderndes Feuer geworfen. Ist das eine gute Strategie?
Das war total idiotisch! Und hoch wirksam – wenn man reichen Leuten ein Geschenk machen will. Die Reichen haben enorm profitiert, für Durchschnittsfamilien gabs noch ein paar Tausend Dollar – und dann wie immer nichts für die Armen.
Neben den Steuersenkungen hat Trump noch China zum Thema gemacht.
Und das war wichtig. Aber nur Handelszoff bringt nichts. Das Handelsbilanzdefizit der USA hängt nicht von China ab, sondern liegt daran, dass es viele Investitionsmöglichkeiten gibt und wir nicht viel sparen. Woher kommt das Kapital? Aus dem Ausland. Und wenn man viel Kapital importiert, ist die Folge davon eben ein Handelsbilanzdefizit.
Hätte Trump den Schulterschluss mit China suchen müssen?
Zumindest ein bisschen diplomatischer vorgehen, statt die Fronten so zu verhärten. Die spannungsgeladene Beziehung zwischen den beiden Wirtschaftsmächten führt am Ende vielleicht sogar dazu, dass wir zwei Internetsysteme kriegen. Das ist quasi ein neuer kalter Krieg.
Wie bewerten Sie die Reaktion der US-Regierung auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise?
Das war ein Beispiel für gute Fiskalpolitik. Zu Beginn wurde massiv Geld in die Wirtschaft gepumpt. Das hat den Schaden, der sonst entstanden wäre, einigermassen in Grenzen gehalten. Im Vergleich etwa zur Schweiz haben die USA aber ja unheimlich wenig automatische Stabilisatoren wie etwa Kurzarbeitsentschädigungen – also mussten sie schnell und heftig reagieren. Und dabei sind auch Fehler passiert. Zum Beispiel hat man viel Geld dafür ausgegeben, Unternehmen am Leben zu erhalten, und viel weniger dafür, den Leuten direkt Geld in die Tasche zu stecken. Das hätte gesamtwirtschaftlich einen besseren Einfluss gehabt. So geht das Geld zum Teil in die falsche Richtung und landet am Ende wieder in ohnehin schon vollen Taschen.
Sie leben seit 24 Jahren in den USA. Haben Sie noch Menschen im Umfeld, die Trump trotz allem wählen?
Ich habe durch die Uni natürlich ein eher liberales Umfeld. Aber auch unter echten Konservativen kenne ich niemanden mehr, der Trumps Politik für gut befindet. Uns fehlen in der heutigen Debatte echt konservative Ideen und Standpunkte. Es ist schliesslich durchaus legitim zu fragen: Was ist die Rolle des Staates? Wie gross sollen staatliche Eingriffe sein? Wie viel soll man umverteilen? Da gibt es vernünftige Positionen auf beiden Seiten – aber was Trump macht, hat nichts mit konservativer Politik zu tun. Das ist nur noch Schwachsinn.
Wie haben Sie Amerika in den vergangenen Jahren erlebt?
Das Gefühl zu wissen, in welche Richtung sich das Land bewegt, ist unter Trump total verschwunden. Bei den Pressekonferenzen sieht man, wie sich gestandene Politiker und Experten quasi vor Trump verbeugen. Die Beamten kuschen. Dabei gibt es grossartige Institutionen und Experten, die historisch dafür gesorgt haben, dass es den USA vor der Pandemie so gut ging. Zu sehen, wie die systematisch untergraben werden, ist deprimierend.
Welche Probleme müsste Joe Biden als Erstes angehen?
Für die längerfristige Entwicklung der Wirtschaft ist es vielleicht am wichtigsten, dass wir Möglichkeiten schaffen, wie man auch ohne grosse Ausbildung mithalten kann beim wirtschaftlichen Fortschritt. Wirtschaftswachstum darf nicht nur einer kleinen Gruppe nutzen.
Warum ist das denn ausgerechnet in den USA historisch so ein Problem?
Es war immer so, dass Menschen aus schwachen Regionen weggezogen sind. Heute ist die Mobilität geringer. In Europa gleicht man das mit einem Haufen Massnahmen wie Infrastrukturförderungen aus, in den USA fehlt das. In der Krise verschärft sich das Problem.
Aktuell würde dringend ein zweites Corona-Hilfspaket benötigt ...
Ja. Aber Kongress und Präsident funktionieren nicht. Also liegt die Macht bei der Zentralbank. Die hält die Zinsen tief, und das wirkt sich auch auf die Immobilienpreise aus. Für Mieter wird es teurer und teurer. Das heisst zum Beispiel für jemanden in North Carolina: Wenn er sich überlegt, nach Kalifornien zu ziehen, weil es da Jobs gibt, kann er das vielleicht nicht machen, weil er sich die Miete nicht leisten kann.
Der Zürcher Ökonom Felix Oberholzer-Gee (59) lehrt Unternehmensstrategie an der Universität Harvard und lebt mit seiner Frau, einer Floristin, seit 1996 in den USA. Den Lockdown im Frühjahr hat der Ringier-Verwaltungsrat für zwei Herzensprojekte genutzt: Er nahm sein Cello wieder mal in die Hand – und schrieb ein Buch. Mit «Better, Simpler Strategy: A Value-Based Guide to Exceptional Performance» (erscheint im April 2021) will er Führungskräften ein einfaches Instrument an die Hand geben, um technologische Komplexität und Marktunsicherheiten zu überwinden.
Der Zürcher Ökonom Felix Oberholzer-Gee (59) lehrt Unternehmensstrategie an der Universität Harvard und lebt mit seiner Frau, einer Floristin, seit 1996 in den USA. Den Lockdown im Frühjahr hat der Ringier-Verwaltungsrat für zwei Herzensprojekte genutzt: Er nahm sein Cello wieder mal in die Hand – und schrieb ein Buch. Mit «Better, Simpler Strategy: A Value-Based Guide to Exceptional Performance» (erscheint im April 2021) will er Führungskräften ein einfaches Instrument an die Hand geben, um technologische Komplexität und Marktunsicherheiten zu überwinden.