Erdogan spielt erneut die Flüchtlings-Karte
Endspiel mit Ansage

Im Norden Syriens gehen die Türkei und Russland auf Konfrontationskurs. Um die Hilfe der EU zu erpressen, bricht Präsident Erdogan (66) den Flüchtlingsdeal mit Europa – und warnt Kreml-Chef Wladimir Putin (67).
Publiziert: 29.02.2020 um 23:39 Uhr
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Aktualisiert: 03.03.2020 um 14:13 Uhr
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In der Syrien-Krise will Präsident Erdogan (66) die Hilfe des Westens mit neuen Flüchtlingsströmen erpressen.
Foto: Anadolu Agency via Getty Images
Johannes von Dohnanyi

In der Syrien-Krise will Präsident Erdogan (66) die Hilfe des Westens mit neuen Flüchtlingsströmen dazu erpressen. Diesmal macht Ankara Ernst: Die Busse stehen bereit. Über Twitter werden Wegkarten zur türkisch-griechischen Grenze verbreitet. Die Schleuser wittern gute Geschäfte.

Bis Samstagabend sollen es schon über 30'000 Menschen gewesen sein, die sich wütend und verzweifelt an den auf griechischer Seite verbarrikadierten Übergängen zur EU drängten. Steine flogen in Richtung Griechenland. Von dort wurde mit Wasserwerfern und sogar Blendgranaten geantwortet. Die Regierung in Athen ist fest entschlossen, nicht nachzugeben. Schon jetzt wird sie mit den Flüchtlingen auf ihren Inseln vor der türkischen Westküste nicht mehr fertig.

Gewalt droht zu eskalieren

Wie schon 2015 beim grossen Flüchtlingstreck aus Syrien droht die Gewalt an der schwächsten Aussengrenze der EU wieder zu eskalieren. Die EU, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Samstag im türkischen Fernsehen, «lässt uns keine Wahl. Europa hat seine Zusagen nicht eingehalten».

Was die finanziellen Absprachen angeht, lügt Erdogan schamlos. Die sechs von Brüssel zugesagten Milliarden Euro für die Versorgung von 3,5 Millionen Syrern in der Türkei sind fast vollständig überwiesen. Allein Berlin hat seit Dezember 2019 zusätzlich fast 140 Millionen Euro bereitgestellt. Allerdings nicht zur freien Verfügung der türkischen Regierung, sondern projektgebunden.

Männerfreundschaft bröckelt

Politisch allerdings hat Europa versagt. Monatelang haben die EU und ihre Mitglieder der Entwicklung in der syrischen Provinz Idlib tatenlos zugeschaut. Es brauchte die Flüchtlingskarawanen, um die Diplomatie zu elektrisieren. In einer Mitteilung an Ankara hat das EDA Mässigung und die Beachtung der Menschenrechte verlangt.

Zu wenig, zu spät! Denn Erdogan hat sich bei seinem geopolitischen Ränkespiel verzockt. Seine Männerfreundschaft mit Kreml-Chef Wladimir Putin (67) bröckelt. Der von Moskau unterstützte syrische Machthaber Bashir al-Assad (54) lässt sich so kurz vor dem Endsieg nicht mehr einschüchtern. Und jetzt hat die russische Luftwaffe bei einem Angriff auf die syrische Grenzprovinz Idlib auch noch 33 türkische Soldaten getötet. Die waren in der letzten Rebellenhochburg mit der Al-Kaida-nahen islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) unterwegs.

Schon lange hatte Ankara versprochen, die HTS zu entwaffnen. Eingelöst wurde dieser Teil des russisch-türkischen Deeskalationsabkommens nie. Vielleicht konnte Erdogan nicht. Oder er wollte nicht. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs vor bald neun Jahren hat er immer wieder mit sunnitischen Terroristen paktiert, ja sogar mit der Terrormiliz Islamischer Staat.

Für Idlib hatte Ankara einen perfiden Plan ausgeheckt: zuerst die Kurden aus der Provinz und dem syrisch-türkischen Grenzgebiet weiter östlich vertreiben und dann die leeren Flächen mit den arabischstämmigen Flüchtlingen in der Türkei besiedeln. Dafür durfte Erdogan sogar mit Soldaten und schwerem Gerät in Syrien einmarschieren.

Erdogan warnt Putin in Krisen-Telefonat

Jetzt, so scheint es, hat der Mann im Kreml genug von den türkischen Finten. In der kommenden Woche will er Erdogan zwar zu einem Krisengespräch empfangen. Aber Putin hatte nie vor, die Macht über Syrien mit Erdogan zu teilen. Für ihn war der türkische Präsident höchstens ein Partner auf Zeit. In der Endrunde des syrischen Bürgerkriegs sitzt der Türke, wenn überhaupt, nur noch auf der russischen Reservebank.

Diese Demütigung macht Erdogan noch gefährlicher. Am Samstag zerstörte seine Armee ein syrisches «Chemiewaffenlager». Der Nato-Staat droht sogar mit einer offenen Konfrontation mit Russland. «Komm ja nicht auf die Idee, mich aufhalten zu wollen», will Erdogan den Kreml-Chef am Telefon gewarnt haben.

Allerdings: Eine Nato-Krisensitzung brachte der Türkei zwar verbale Solidarität, aber kein Versprechen auf militärische Hilfe. Auch die Drohungen des türkischen Botschafters im Weltsicherheitsrat blieben wirkungslos.

In seiner Not verspielt Recep Tayyip Erdogan jetzt auch noch den letzten Rest seiner Ehre. Mit den wehrlosen Flüchtlingen als Geiseln will er Nato und EU zur Teilnahme an seinem syrischen Machtpoker erpressen.

Krieg in Syrien: Wer kämpft gegen wen?

Seit 2011 tobt der Krieg in Syrien. Zeitweise sah es so aus, als verliere Präsident Baschar al-Assad seine Macht. Mittlerweile aber konnten Regierungsgruppen grosse Gebiete des Landes wieder einnehmen. Ein Überblick:

  • Syrische Regierung
    Assads Anhänger kontrollieren fast den gesamten westlichen Teil des Landes von Aleppo im Norden über das Zentrum um die Hauptstadt Damaskus bis zur Stadt Daraa im Süden, wo der Aufstand im Frühjahr 2011 begonnen hatte. Regierungstreue Kräfte beherrschen damit den grössten Teil der noch verbliebenen Einwohner und die wichtigsten Städte. Allerdings ist die Armee dabei auf Hilfe angewiesen.
    Das sind einerseits lokale Milizen, die oft von Kriegsherren kommandiert werden. Dazu zählen aber auch ausländische schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden, wie die Hisbollah aus dem Libanon. Russlands Armee unterstützt die Regierung mit Luftangriffen.

  • Die Rebellen
    Eine ihrer letzten verbliebenen Hochburgen ist die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Eine der stärksten bewaffneten Gruppen dort ist die Organisation Tahrir al-Scham (HTS), die früher zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehörte. In dem Gebiet leben auch mehr als eine Millionen Menschen, die aus anderen Regionen vor den Assad-Truppen geflohen sind. Die humanitäre Lage ist schwierig.

  • Die Türkei
    Gemeinsam mit syrischen Rebellen beherrschen Ankaras Truppen ein Gebiet nördlich von Idlib rund um die Stadt Afrin. Die türkische Armee war hier im Frühjahr einmarschiert und hatte die Kurdenmiliz YPG vertrieben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht nun mit einer neuen Offensive gegen die Kurden.

  • Die Kurden
    Sie beherrschen grosse Gebiete im Norden und Osten Syriens und haben eine Selbstverwaltung errichtet. Die Kurdenmiliz YPG führt eine Koalition an, zu der auch lokale arabische Gruppen gehören. Die so genannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bekämpfen nahe der Grenze zum Irak einer der letzten Bastionen des IS. Die Kurden kontrollieren auch die wichtigsten Ölvorräte des Bürgerkriegslandes.

  • Die USA
    Washington hat etwa 2000 Mann im Land, die die YPG und SDF unterstützen, unter anderem mit Ausbildung. Als Hauptziel nennen sie die Zerschlagung des IS. Die USA führen auch eine internationale Koalition an, die Luftangriffe auf die Extremisten fliegt. Trump liess die US-Truppen im Oktober 2019 abziehen und brach die Unterstützung der kurdischen Kämpfer ab.

  • Der IS
    Die Terrormiliz Islamischer Staat hat ihr früheres Herrschaftsgebiets fast vollständig verloren. Im Osten kontrolliert sie noch ein kleines Gebiet. In den Wüstenregionen Syriens und auch des Iraks sind aber noch Zellen aktiv, die Terroranschläge verüben.

Seit 2011 tobt der Krieg in Syrien. Zeitweise sah es so aus, als verliere Präsident Baschar al-Assad seine Macht. Mittlerweile aber konnten Regierungsgruppen grosse Gebiete des Landes wieder einnehmen. Ein Überblick:

  • Syrische Regierung
    Assads Anhänger kontrollieren fast den gesamten westlichen Teil des Landes von Aleppo im Norden über das Zentrum um die Hauptstadt Damaskus bis zur Stadt Daraa im Süden, wo der Aufstand im Frühjahr 2011 begonnen hatte. Regierungstreue Kräfte beherrschen damit den grössten Teil der noch verbliebenen Einwohner und die wichtigsten Städte. Allerdings ist die Armee dabei auf Hilfe angewiesen.
    Das sind einerseits lokale Milizen, die oft von Kriegsherren kommandiert werden. Dazu zählen aber auch ausländische schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden, wie die Hisbollah aus dem Libanon. Russlands Armee unterstützt die Regierung mit Luftangriffen.

  • Die Rebellen
    Eine ihrer letzten verbliebenen Hochburgen ist die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Eine der stärksten bewaffneten Gruppen dort ist die Organisation Tahrir al-Scham (HTS), die früher zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehörte. In dem Gebiet leben auch mehr als eine Millionen Menschen, die aus anderen Regionen vor den Assad-Truppen geflohen sind. Die humanitäre Lage ist schwierig.

  • Die Türkei
    Gemeinsam mit syrischen Rebellen beherrschen Ankaras Truppen ein Gebiet nördlich von Idlib rund um die Stadt Afrin. Die türkische Armee war hier im Frühjahr einmarschiert und hatte die Kurdenmiliz YPG vertrieben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht nun mit einer neuen Offensive gegen die Kurden.

  • Die Kurden
    Sie beherrschen grosse Gebiete im Norden und Osten Syriens und haben eine Selbstverwaltung errichtet. Die Kurdenmiliz YPG führt eine Koalition an, zu der auch lokale arabische Gruppen gehören. Die so genannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bekämpfen nahe der Grenze zum Irak einer der letzten Bastionen des IS. Die Kurden kontrollieren auch die wichtigsten Ölvorräte des Bürgerkriegslandes.

  • Die USA
    Washington hat etwa 2000 Mann im Land, die die YPG und SDF unterstützen, unter anderem mit Ausbildung. Als Hauptziel nennen sie die Zerschlagung des IS. Die USA führen auch eine internationale Koalition an, die Luftangriffe auf die Extremisten fliegt. Trump liess die US-Truppen im Oktober 2019 abziehen und brach die Unterstützung der kurdischen Kämpfer ab.

  • Der IS
    Die Terrormiliz Islamischer Staat hat ihr früheres Herrschaftsgebiets fast vollständig verloren. Im Osten kontrolliert sie noch ein kleines Gebiet. In den Wüstenregionen Syriens und auch des Iraks sind aber noch Zellen aktiv, die Terroranschläge verüben.
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