Während Zentraleuropa gegen das Corona-Virus kämpft, bekriegen sich rund 3500 Kilometer weiter östlich die Türkei, Russland und Syrien. Brennpunkt: Idlib, Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks im Nordwesten Syriens. Vor allem aber letzter Rückzugsort der syrischen Rebellen.
Vor neun Jahren starteten diese einen Bürgerkrieg gegen die autoritäre Herrschaft des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Über die Jahre gewannen islamistische und jihadistische Milizen die Oberhand über moderate und säkulare Oppositionsgruppen, die Rebellen wurden immer radikaler, immer ruchloser. Gebracht hat es ihnen wenig. Assad hat «sein» Land Stück für Stück zurückerobert, hauptsächlich, weil Wladimir Putin ihm tatkräftig zur Seite stand. Auf brutalste Art und Weise terrorisierten die beiden gemeinsam die Zivilbevölkerung, liessen gezielt Krankenhäuser, Schulen und Wohnhäuser bombardieren, bis den Rebellen nur noch ein Rückzugsort blieb: Idlib.
Waffenruhe in Idlib nur Schein
Auf diese Region hat aber der türkische Präsident Erdogan ein besonderes Augenmerk geworfen. Einerseits gibt er gerne damit an, Schutzherr der (islamischen) Aufständischen zu sein, vor allem aber möchte er verhindern, dass es zu einer Massenflucht in Richtung Türkei kommt. Zudem will er gleichzeitig die kurdischen Freiheitskämpfer, die sich dort aufhalten, eliminieren. Und ein bisschen Kontrolle über Syrien erhalten.
Im Herbst 2018 schlossen Russland und die Türkei deshalb ein Abkommen, das eine Art Waffenruhe in Idlib vorsieht. Auch wenn diese Abmachung seither dutzendfach von jeder Seite gebrochen wurde, war die Situation nie derart prekär wie in diesen Tagen. Das syrische Militär dringt gemeinsam mit russischer Hilfe seit wenigen Wochen immer weiter in das Gebiet vor, Hunderttausende Menschen müssen flüchten. Doch sie wissen nicht wohin. Der Weg in die Türkei ist mit einer Mauer versperrt. Sie frieren, hungern, verzweifeln. Helfer sprechen von einer katastrophalen humanitären Lage. Diese dürfte sich nun noch einmal deutlich verschlimmern.
Situation eskaliert
Diese Woche starben bei einem russischen Luftangriff 33 türkische Soldaten. Erdogan gab Syrien die Schuld, übte Vergeltungsschläge und tötete nach eigenen Angaben mindestens 16 syrische Soldaten.
Gleichzeitig bat Erdogan die Nato um Hilfe und drohte damit, seine Grenzen zu öffnen. Die Botschaft ist klar: Entweder hilft mir die Nato, oder ich lasse die syrischen Flüchtlinge nach Zentraleuropa.
Die Nato verurteilte denn auch die Luftangriffe auf türkische Truppen. Generalsekretär Jens Stoltenberg rief Syrien und Russland dazu auf, ihre Offensive zu beenden, internationales Recht zu achten und die Bemühungen der Vereinten Nationen für eine friedliche Lösung zu unterstützen. Derweil berichtet die russische Nachrichtenagentur Interfax, dass Russland zwei mit Marschflugkörpern bestückte Kriegsschiffe ins Mittelmeer zur syrischen Küste entsendet.
Griechenland schliesst Grenzen
Wie sehr die Nato tatsächlich zu Erdogan halten wird, falls Putin weitere Angriffe auf die Türkei fliegen wird, ist allerdings unklar. Schliesslich hatte der türkische Präsident die Europäer und die USA in der Vergangenheit gerne als Terrorhelfer und Rassisten bezeichnet. Und Erdogan hatte auch in der Vergangenheit immer wieder damit gedroht, seine Grenzen zu öffnen. Ob er das wirklich will und damit sein letztes Druckmittel aufgibt, wird von Experten aber angezweifelt.
Sicher ist, dass die aktuelle Situation in Idlib die prekärste ist, die der ohnehin schon sehr blutige Syrien-Krieg in den letzten neun Jahren gesehen hat. Erdogan und Putin wollen heute Freitag miteinander telefonieren. Gut möglich, dass dieses Telefonat das Leben von Millionen Menschen verändert. Griechenland jedenfalls hat schon einmal vorsorglich 50 Kriegsschiffe zu den griechischen Inseln geschickt, berichtet «Bild». Das Ziel: Die Grenzen zur Türkei komplett dicht machen.