Worum geht es in Venezuela?
Seit zwei Jahrzehnten sind die Chavistas an der Macht, eine sozialistische Partei, die vom ehemaligen Präsidenten Hugo Chávez (†59) gegründet wurde. Unter seinem Nachfolger Nicolás Maduro schlitterte das Land mit den grössten Erdölreserven der Welt in eine riesige Krise. Das einst reichste Land Südamerikas kämpft unter anderem mit einer gewaltigen Inflation, Millionen Venezolaner sind in den letzten Jahren geflohen.
Viele Bürger haben nun genug und wollen, angeführt vom 35-jährigen Juan Guaidó, einen Führungswechsel. Guaidó hat sich am 23. Januar zum Interimspräsidenten ernennen lassen und wird unter anderem von den USA, Brasilien und dem EU-Parlament anerkannt. Maduro kann unter anderem auf Hilfe aus China, Russland, Kuba und zurzeit noch von seinem Militär zählen, das in Venezuela eine riesige Macht hat.
Warum geht es Venezuela so schlecht?
Venezuela hängt vom Öl ab. Rund 90 Prozent der Exporte gehen auf das Konto des schwarzen Goldes. Einerseits ist der Ölpreis im Vergleich mit dem Beginn des Chávez-Zeitalters deutlich eingebrochen, auch wenn er sich zwischenzeitlich wieder etwas erholt hat. Doch Venezuela hat seine Erdölförderung seither auch um rund 60 Prozent zurückfahren müssen.
Grund dafür sind korrupte Beamte, die Geld, das für den Unterhalt von Raffinerien gedacht war, in die eigene Tasche steckten und die Fabriken verlottern liessen. Zudem hat Hugo Chávez unter dem Begriff «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» die Wirtschaft des Landes radikal umgebaut. Er verstaatlichte Tausende von Unternehmen und nahm damit der Wirtschaft die Grundlage.
Die Firmen gingen in die Hände von Militärs über, die oft keine Ahnung von Unternehmensführung hatten und vor allem darauf bedacht waren, sich zu bereichern. Die Folge: Ausser Öl exportiert Venezuela kaum etwas, fast alles muss importiert werden. Dazu gehören Grundnahrungsmittel, WC-Papier oder Medikamente.
Um den sinkenden Ölpreis und die lahmende Wirtschaft aufzufangen, begann Maduro, wie verrückt die Staatswährung Bolivar zu drucken. Die Folge war eine Inflation, wie es sie seit der Weimarer Republik im Jahr 1923 nicht mehr gegeben hat. Statt in Portemonnaies tragen die Bewohner ihre Bolivar mittlerweile mit Schubkarren durch die Strassen.
Wo steht das Volk?
Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Viele Arme halten zu Maduro, weil die sozialistische Regierung alles versucht, ihnen das Leben zu erleichtern. Schon Hugo Chávez gab Milliarden Dollar für die Bauern aus, für viele Venezolaner wird er immer ein Held bleiben. Als Vergleich: Von 2000 bis 2013 wuchs der Ausgabenanteil des Staates von 28 auf 40 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts an – das ist weltweit einzigartig.
Maduro hat dort angeknüpft und unter anderem das Benzin gratis gemacht und einen absoluten Arbeitnehmerschutz (Kündigungsverbote für Unternehmen) eingeführt. Dazu wird kostenlos Essen an die Bevölkerung verteilt und mit diversen Sozialprogrammen versucht, allen Menschen eine Anstellung zu verschaffen.
Doch diese Bemühungen können die Mängel der Chavista-Politik nicht kaschieren. Viele Venezolaner verhungern oder sterben an relativ simplen Eingriffen wie Blinddarmentzündungen, weil Medikamente fehlen oder gute Ärzte nicht finanzierbar sind. Um Proteste zu unterdrücken, hat Maduro kürzlich den Mindestlohn um 300 Prozent erhöht, die Differenz wird von der Regierung bezahlt.
Allerdings nützt das nichts, die Inflation in Venezuela ist so hoch – für 2018 wird sie auf eine Million Prozent geschätzt! – dass das Land verhältnismässig das teuerste der Welt ist. Der Mindestlohn beträgt neu 10 Dollar im Monat, davon kann man sich derzeit aber nicht einmal ein Brot kaufen.
Was sind die Interessen der USA, von Russland, China und der EU?
- Die USA sind der grösste Fürsprecher eines Führungswechsels. Sie haben bereits angekündigt, nur noch von Juan Guaidó Rohöl zu kaufen. Weil die USA bis dato der grösste Käufer venezolanischen Öls waren, ist das ein Entscheid von enormer Tragweite.
Die USA wollen Maduro entmachtet sehen, weil das sozialistische Regime seit jeher ein Dorn im Auge der Vereinigten Staaten ist. Sie mögen es nicht, dass Länder wie Kuba, China oder Russland die bessere Beziehungen zu Venezuela haben. Zudem sind die Flüchtlingsströme ein Problem für die USA, die gerne Ruhe auf dem lateinamerikanischen Kontinent haben, weil so die eigenen Grenzen einfacher zu schützen sind.
- China und Russland dagegen erhalten sehr viel Erdöl, mit dem Venezuela seine Schulden zahlt. Die Deals sind für die beiden Grossmächte hervorragend, denn beide brauchen das Öl. Würde Venezuela aber wieder zu Geld kommen, könnten die Schulden mit Geld zurückbezahlt werden, was beiden Ländern weniger nützt. Zudem ist Venezuela für Russland und China die beste Möglichkeit, Zugriff auf den südamerikanischen Kontinent zu erhalten.
- Die EU hat sich auf die Seite der USA gestellt, wirkt dabei bisher aber eher wie ein Nachplapperer. Sie fordert von Maduro Neuwahlen, die dieser bisher verweigert.
Wie geht es weiter?
Es ist absehbar, dass Maduro verlieren wird. Drei wichtige Fragen sind dazu offen: Wann? Wie? Und: Wer wird sein Nachfolger? Zwar weigert sich Maduro, die geforderten Präsidentschaftswahlen anzusetzen, doch das ist nur eine Frage der Zeit. Ohne das Geld der Amerikaner lässt sich sein Regierungsstil nicht mehr lange weiterführen, da würde sogar ein extremer Anstieg des Ölpreises kaum helfen.
Doch ein neuer Präsident alleine ändert nichts. Die wichtigsten Positionen im Land, in Unternehmen, Gerichten und der Politik, sind von Militärs besetzt, die durch die Chavista-Regierungen an die Macht kamen. Viele von ihnen haben durch Korruption sehr viel Geld verdient und müssen fürchten, bei einem Machtwechsel zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es muss abgewartet werden, ob diese Leute zum Gehen gedrängt werden können, beispielsweise durch das Versprechen von Straffreiheit, oder ob ausländische Truppen einmarschieren wollen. Dies wäre das Horror-Szenario.
Geht es nach Maduro wieder bergauf?
Nein, so einfach ist das nicht. Zuerst müssen unzählige Fragen beantwortet werden – die wichtigste, wer Nachfolger wird. Derzeit ist Juan Guaidó Präsident der Nationalversammlung Venezuelas und – in den Augen der westlichen Welt – Interimspräsident.
Doch wenn er sich nach einer Absetzung Maduros zum Präsidenten ernennt, würde er die meisten seiner Unterstützer vergraulen. Das Land braucht dringend freie Wahlen, nachdem unter dem Chavista-Regime viele Abstimmungsresultate äusserst kritisch betrachtet wurden. Eines der Probleme bei Neuwahlen: Kaum jemand kennt Guaidó, der erst in den vergangenen Monaten im Land bekannt wurde. Die bekanntesten Politiker und Kritiker Maduros sitzen allesamt im Gefängnis.
Bis es Neuwahlen geben kann, bräuchte es einige Zeit. Anschliessend muss das Land unter anderem darauf schauen, seine immensen Schulden abzubauen, die Raffinerien wieder auf 100 Prozent hochzufahren, wichtige Güter zu importieren und ausländische Unternehmer ins Land zu locken. Bis das Land wieder in alter Stärke erstrahlen kann, dürfte es noch einige Zeit dauern.
Doch gerade wegen der riesigen Erdölreserven und weil jeder gerne dort investieren würde, weil einfach alles wieder aufgebaut werden muss, ist es realistisch, dass das Land nach den Seuchenjahren in eine glücklichere Zukunft blicken kann. Nur wann die Zukunft beginnt, ist offen.
Das durch eine Finanzkrise bereits gebeutelte Venezuela befindet sich in einer Staatskrise: Juan Guaidó, der Präsident des entmachteten Parlaments, erklärte sich nach tagelangen Demonstrationen gegen den amtierenden Regierungschef Nicolás Maduro, am 23. Januar zum Übergangsstaatschef.
Maduros Wiederwahl in den vorgezogenen Wahlen letzten Jahres ist umstritten und viele westliche Länder anerkennen seine Regierung nicht, da die Wahl manipuliert gewesen sein soll. Seit seinem Amtstritt Anfang Januar gab es gewaltsame Unruhen und Proteste in Venezuela. Seit dem Putschversuch durch Guaidó herrscht ein erbitterter Machtkampf. BLICK erklärt die Hintergründe und wichtigsten Fragen zum Konflikt.
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