Was die Schweden besser machen – und was nicht
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Vergleich mit der Schweiz:Was die Schweden besser machen – und was nicht

Hat sich der Sonderweg gelohnt?
Was die Schweden besser machen – und was nicht

Die Schweden gingen in der Corona-Krise den Sonderweg. Nun nähert sich die Schweiz den Skandinaviern an. BLICK vergleicht Massnahmen und Infektionszahlen.
Publiziert: 18.05.2020 um 23:09 Uhr
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Aktualisiert: 25.02.2021 um 22:41 Uhr
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Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell entschied sich gegen den Lockdown.
Foto: imago
Fabienne Kinzelmann

Kein Lockdown, dafür Eigenverantwortung: Schweden traute sich den Corona-Sonderweg. Als alle anderen Länder in Europa Schulen, Läden und Grenzen dichtmachten, scherte das skandinavische Land aus. Hat sich der Mut gelohnt? Die erste nachgewiesene Infektion, also den Patienten 0, gab es in Schweden schon am 31. Januar bei einer Schwedin, die zuvor im Corona-Epizentrum Wuhan war. In der Schweiz am 25. Februar – ein Tessiner (70), der sich in der Nähe von Mailand (I) angesteckt hatte. Danach mehrten sich die Fälle in beiden Ländern.

BLICK macht den Vergleich – so unterschiedlich gingen die Schweiz und Schweden daraufhin vor:

Abstandsregel

In der Schweiz gelten zwei Meter. In Schweden gibt es keine feste Regel.

Konzerte, Theater, Kino

Ab dem 1. März wurden in Schweden Events mit mehr als 500 Personen verboten, erst seit dem 29. März gilt das Verbot für Veranstaltungen ab 50 Personen.

In der Schweiz wurden Versammlungen schon ab dem 13. März auf 100 Personen begrenzt, eine Woche später waren nur noch fünf Personen erlaubt.

Grenzen

Die Schweiz schloss ab dem 11. März die Grenzen zu den Nachbarländern, zuerst die zum schwer betroffenen Italien.

«Grenzschliessungen sind sinnlos», machte Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell Ende April geltend. Die Einreise nach Schweden war vom 19. März bis zum 15. Mai dennoch für Nicht-Europäer verboten. Und: Schwedens Nachbarn Dänemark, Norwegen und Finnland haben ihre Grenzen recht schnell geschlossen.

Alten- und Pflegeheime

Während in der Schweiz schnell ein Besuchsverbot galt, führte Schweden ein solches erst im April ein – nachdem die Todesfälle in den Einrichtungen immer weiter anstiegen.

Restaurants und Läden

In der Schweiz war der Lockdown am 16. März. In Schweden blieb alles offen. Einzig: Schlange stehen ist verboten.

Schulen

Mit dem Lockdown gingen in der Schweiz die Schulen zu. Kitas blieben offen – mit der Empfehlung, dass nur Kinder von Eltern mit systemrelevanten Berufen betreut werden. In Schweden hingegen blieben nur Ü16-Jährige zu Hause.

App

Eine App, um Infektionsketten nachzuverfolgen, könne genauso effektiv sein wie ein Lockdown, sagt der deutsche Chef-Virologe Christian Drosten. In Schweden wurde Ende April bereits eine Symptom-Tracking-App veröffentlicht. In der Schweiz befindet sich eine Contact-Tracing-App gerade erst in der Testphase.

Empfehlungen

Die Schweden setzen vor allem auf Empfehlungen. Eine lautet etwa, dass sich Ferienreisende innerhalb des Landes nur eine Stunde von ihrem Heimatort entfernen sollen. Und ältere Menschen sollen sich selbst isolieren.

Schweden habe diesen Weg gewählt, weil er längerfristig angelegt ist, zitiert der «Economist» den schwedischen Epidemiologen Johan Giesecke, der die Behörden berät. Vollständige Abriegelungen und Ausgangssperren seien Notfallmassnahmen – und die europäischen Regierungen hätten sie eingeführt, ohne zu planen, was sie ersetzen würde.

Das sagt die WHO

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist für ihre Zurückhaltung gegenüber ihren Mitgliedsländern bekannt. Offen kritisierte die Organisation Schweden nicht – warnte allerdings noch im April davor, dass Lockerungen «das Letzte» wären, was Länder bräuchten. Shutdowns wären «der beste Weg, um die Übertragung einzudämmen und zu stoppen».

Anfang Mai änderte die WHO ihren Kurs. Man könne «von Schweden lernen», sagte WHO-Geschäftsführer Mike Ryan. «Ich glaube, es herrscht der Eindruck, dass Schweden keine Bekämpfungsmassnahmen ergriffen und nur die Ausbreitung der Krankheit zugelassen hat. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt.» In der nächsten Phase der Pandemie könne Schweden gar das «Zukunftsmodell» sein.

Mit den Lockerungen ab dem 27. April nähert sich die Schweiz dem schwedischen Modell an.

So verlief die erste Welle

Infektionen

In der Schweiz ging die Zahl der Neuinfektionen durch den Lockdown deutlich zurück. In Schweden steigt die Kurve zwar nicht steil exponentiell, flacht jedoch noch nicht sichtbar ab – noch immer gibt es um die 500 Neuinfektionen pro Tag.

Todesfälle

In Schweden starben bislang 3679 Menschen an Covid-19. Das sind pro 100'000 Einwohner etwa 36 Menschen, in der Schweiz sind es nur rund 19. Für Kritik sorgen zudem die vielen Todesfälle in schwedischen Alten- und Pflegeheimen.

Spitäler

In der Schweiz war das Gesundheitssystem nicht komplett überlastet – auch wenn es im Tessin und in der Westschweiz durchaus eng wurde. Spitäler können nun wieder zur Normalität zurückkehren.

Aber auch aus Schweden gab es keine Katastrophennachrichten. «Wir versuchen, die Ausbreitung zu verlangsamen, sodass wir alle Patienten behandeln können», sagte Anders Tegnell, der Architekt von Schwedens Sonderweg. Es gab offenbar zu jedem Zeitpunkt noch freie Intensivbetten.

Wirtschaft

Für die Schweiz sind die Prognosen düster. Die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich rechnet mit einem Einbruch des Bruttoinlandprodukts (BIP) im laufenden Jahr um 5,5 Prozent.

In Schweden sieht es allerdings nicht besser aus. Hier rechnen mehrere Prognosen mit einem Minus von sieben Prozent. Öffnet sich Schweden anderen Ländern aufgrund der noch immer hohen Infektionszahlen erst später, könnte das die Wirtschaftsleistung weiter beeinflussen. Einzig der Konsum im eigenen Land könnte weniger Schaden davontragen.

Wer hat es besser gemacht?

Der Lockdown hat der Schweiz wertvolle Zeit verschafft, um die Spitäler auf die Welle vorzubereiten. Mit den Lockerungen nähert sich die Schweiz nun – wie viele Länder – Schweden an. Klar ist: In keinem Land lassen sich Wirtschaft und öffentliches Leben ewig stilllegen.

Die Schweiz (8,5 Millionen) und Schweden (10,2 Millionen) haben ähnlich viele Einwohner – allerdings ist Schweden elfmal grösser und viel weniger dicht besiedelt. Weil sich das Virus vor allem in grossen Städten rasend schnell verbreitete, konnten es sich die Schweden eher leisten, auf Empfehlungen zu setzen. Den Schweden ist Autonomie zudem sehr wichtig. Weiter ist Homeoffice in der skandinavischen Arbeitswelt bereits deutlich verbreiteter als bei uns. Dadurch konnten viele Schweden freiwillig zu Hause bleiben.

In der Schweiz ist die Kurve nun abgeflacht. Die grosse Frage ist, wie sich die Lockerungen auswirken. Verläuft die Kurve in der Schweiz nun ähnlich wie in Österreich – das als erstes EU-Land gelockert hat –, dürfte die Zahl der Neuinfektionen relativ konstant bleiben.

In Schweden hingegen ist nur die exponentielle Ausbreitung des Virus eingedämmt, die Kurve jedoch noch nicht abgeflacht. Die noch immer hohen Infektionszahlen dürften das Gesundheitssystem weiter belasten und insbesondere die Risikogruppe stark gefährden.

Welches Land mit seiner Strategie langfristig erfolgreicher ist – das lässt sich frühestens bei der zweiten Welle sagen. Wenn in Schweden überdurchschnittlich viele Menschen bereits infiziert waren und dadurch möglicherweise immun sind, könnte die Zahl der Neuinfektionen dann tiefer sein als in anderen Ländern. Herdenimmunität ist für das neuartige Coronavirus allerdings noch nicht bewiesen. Aktuelle Studien zeigen, dass Infizierte, die nur leichte Symptome haben, möglicherweise nicht genügend Antikörper für eine Immunität bilden.

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Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.

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