Die wichtigsten Fragen zu Idlib
Putin und Assad wollen neue Flüchtlings-Welle auslösen

Am Wochenende kam es in Idlib zu schweren Luftangriffen. Russland und das syrische Regime bombardierten die von Aufständischen kontrollierte Stadt. BLICK erklärt, was auf dem Spiel steht.
Publiziert: 10.09.2018 um 15:41 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 22:46 Uhr
Russland und Syrien greifen Städte und Dörfer in Idlib an
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Dutzende Luftangriffe am Samstag:Russland und Syrien greifen Städte und Dörfer in Idlib an
Johannes von Dohnanyi

Hat die Offensive schon begonnen?

Der Aufmarsch der Truppen ist abgeschlossen. Die Armee von Bashar al-Assad ist fest entschlossen, die letzte von den Rebellen gehaltene Provinz Idlib zurückzuerobern – koste es, was es wolle. In den vergangenen Tagen haben syrische und russische Kampfflugzeuge bereits schwere Angriffe auf die Stellungen der Rebellen geflogen. Wieder einmal wurden auch Schulen und Krankenhäuser zerbombt. Aber das alles war nur Vorgeplänkel. Noch hat «die Mutter aller syrischen Schlachten» nicht begonnen. Denn hinter den Kulissen gehen die Verhandlungen über die Zukunft nicht nur von Idlib,
sondern Syriens insgesamt weiter.

Worum geht es?

In der vergangenen Woche scheiterten die Präsidenten Russlands, des Iran und der Türkei in der kasachischen Hauptstadt Astana bei der Suche nach einem Kompromiss für ihre jeweiligen strategischen Interessen in Syrien. Wladimir Putin möchte, ebenso wie der Iraner Hassan Rohani, die vorwiegend sunnitischen islamistischen Rebellen in Idlib vernichtend schlagen. Der Russe will aber mehr: Er will in Syrien bleiben! Die Kontrolle über das syrische Regime, aber auch den Hafen von Tartus, der seiner Kriegsmarine den Zugang zum Mittelmeer garantiert, wird Putin auch nach Kriegsende nicht aufgeben.

Ob Teheran und seine Söldnertruppen dieser russische Präsenz in ihrer Einflussregion auf Dauer zustimmen werden?

Russlands Militär hat eifrig bei der Zerstörung Syriens geholfen. Die weit über 100 Milliarden Euro, die es für den Wiederaufbau bräuchte, sollen von den Europäern bereitgestellt werden. Weil er mit dieser Idee bei der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, aber auch in Paris und London auf taube Ohren stiess, droht der Kremlchef damit, von Idlib aus eine neue Flüchtlingswelle in Richtung Westeuropa zu provozieren.

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Unruhen in der Provinz Idlib.
Foto: AP

Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan machen diese Pläne Sorgen. Die Regierung in Ankara und ihre seit Monaten im Norden von Idlib eingegrabenen Truppen kooperieren mit den meisten islamistischen Rebellengruppen in der Region. Erdogans «Freundschaft» mit Putin ist in diesen Tagen schwer belastet: Er will weder auf sein Protektorat Idlib noch auf die Beziehungen zu den Rebellen verzichten. Sie sind unersetzbar bei der Umsetzung von Erdogans wichtigstem Ziel: die Verhinderung eines unabhängigen kurdischen Staats an der Grenze zur Türkei.

Was sind die Folgen?

Die Taktik des syrischen Regimes und seiner Helfer war in der Vergangenheit ebenso einfach wie wirksam: Hatte man die Menschen in einer von Rebellen gehaltenen Region erst einmal ausgehungert, ihre Krankenhäuser, Schulen und Wohnungen zerbombt und zum Schluss dann auch noch Giftgas eingesetzt – dann kam das Angebot für einen ungehinderten Abzug der Rebellen und die Flucht der Zivilisten. Die vorgegebene Fluchtroute war immer dieselbe: Idlib!

Alles deutet darauf hin, dass die syrische Armee mit Unterstützung der russischen Luftwaffe ihre bewährte Taktik in Idlib nicht verändern wird. Assads Generäle freuen sich bereits öffentlich auf eine erfolgreiche
«Kaninchenjagd». Nur die Flucht über die türkische Grenze könnte die Eingeschlossenen retten. Das hat Erdogan bereits ausgeschlossen. Und in Syrien selbst wird es keinen Fluchtweg mehr geben.

Wie viele Menschen sind betroffen?

In Idlib hat Assad die Rebellen, aber auch die vor seinen Mördertruppen geflohenen Zivilisten zusammengepfercht an einem Ort. 1,5 Millionen Menschen lebten in der Provinz vor dem Krieg. Zusammen mit den nach Idlib geflohenen Rebellen und Zivilisten sind es inzwischen 2,9 Millionen.

Schon jetzt gehen den Eingeschlossenen die Nahrungsmittel aus. Die medizinische Versorgung der Verwundeten wird immer schwieriger. Die internationalen Helfer werden an der Auslieferung von Hilfsgütern behindert. Die Vereinten Nationen und internationale Hilfsorganisationen warnen bereits vor einer menschlichen Katastrophe.

Wer kämpft gegen wen?

Das syrische Regime und das russische Militär kämpfen nicht nur um die Rückeroberung der Provinz Idlib. Hier sollen auch die zumeist islamistischen Rebellenverbände vernichtend geschlagen werden. Bereit zum Eingreifen sollen auch iranische Spezialeinheiten sein. An der Front gesichtet wurden sie bislang aber nicht.

Assad und den Russen gegenüber stehen rund 70'000 Kämpfer der erst vor wenigen Monaten gegründeten «Nationalen Befreiungsfront» (NLF). Sie werden vom türkischen Militär ausgebildet und bewaffnet. Das nötige Geld dafür bekommt Erdogan aus Katar.

Und dann sind da noch gut 10'000 kampferprobte Islamisten der Terrortruppe HTS, die vorwiegend aus ehemaligen Mitgliedern des Al-Kaida-Ablegers Al-Nusra-Front bestehen. Zu ihnen soll der türkische Geheimdienst beste Beziehungen haben.

In Astana verlangten Putin und Rohani in der vergangenen Woche die aktive Unterstützung der Türkei bei der Vernichtung dieser beiden Gruppen. Der Gipfel platzte, weil Erdogan auf seine islamistischen Helfershelfer nicht verzichten wollte.

Setzt Assad Chemiewaffen ein?

In den vergangenen Tagen gab es bereits Meldungen über erste Giftgas-Attacken der syrischen Armee in Idlib. Verifiziert werden konnten diese Informationen bislang nicht.

Im Verlauf des Bürgerkriegs hat das Regime diese international geächteten Waffen jedoch immer wieder eingesetzt. Jedes Mal detonierten die Geschosse in Wohngebieten. Es gibt keinen Grund, warum Assad nicht auch auf die eingeschlossenen Syrer in Idlib mit Gasgranaten losgehen sollte.

Wie werden die USA und Europa auf eine solche Eskalation reagieren?

Schon einmal wollte Donald Trump den syrischen Präsidenten nach einem solchen Angriff liquidieren lassen. Damals hielten ihnen seine militärischen Berater zurück. Jetzt denken die Verteidigungsminister in Berlin und Paris laut darüber nach, notfalls ihre in der Region stationierten Kampfflugzeuge zum Schutz der Menschen in Idlib aufsteigen zu lassen.

Ob es so weit kommt, bleibt aber fraglich. Über Idlib würden dann nämlich notgedrungen Flugzeuge der Nato auf syrische und russische Maschinen treffen. Wäre Idlib der Nato das Risiko einer Internationalisierung des Konflikts wert?

Ist das die letzte Schlacht des Syrien-Kriegs?

Ganz klar: Nein! Denn am Ende der mörderischen Fresskette des syrischen Bürgerkriegs werden – einmal mehr – die Kurden stehen. Sie haben in den Wirren des Konflikts ihre Autonomie im Norden Syriens verfestigt und sogar ausgebaut.

Der türkische Präsident Erdogan hat bereit mehrfach erklärt, dass er einen solchen Zustand nicht hinnehmen wird. Türkische Panzereinheiten sind bereits in die Region vorgedrungen. Nach der Schlacht von Idlib möchte Erdogan seine islamistischen Verbündeten gegen die Kurden einsetzen. Das Problem des Türken: Die Kurden und ihre gut ausgebildeten und bewaffneten Peshmerga-Truppen werden bislang von den USA unterstützt. Wird Erdogan eine direkte Konfrontation mit Washington wagen? Werden ihn dann die Russen und Iraner unterstützen, denen jede Schwächung der Nato hoch willkommen wäre?

Wer hat in Idlib im Moment das Sagen?

Diese Frage lässt sich beim besten Willen nicht beantworten. Die militärische Verteidigung der Provinz liegt bei den Rebellen. Sie sollen bereits Zivilisten daran gehindert haben, in Richtung syrische Armee zu fliehen. Inwieweit die zivile Administration noch funktioniert, ist unklar. Nur eines steht fest: 2,9 Millionen Menschen sind in Idlib eingekesselt. Sie hoffen auf eine politische Lösung in letzter Sekunde – und fürchten den Beginn der «Mutter aller syrischen Schlachten».

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