Die Lage in Belarus eskaliert! Nach den Wahlen am Sonntag gingen am Montagabend erneut Zehntausende Menschen auf die Strasse, um gegen Wahlfälschung zu demonstrieren. Der amtierende Präsident Alexander Lukaschenko (65) hatte laut Regierungsangaben die Wahlen mit über 80 Prozent der Stimmen gewonnen.
Die Opposition aber spricht von Wahlbetrug. In 100 Wahllokalen, welche die Resultate von sich auf publizierten, lag die Herausforderin Swetlana Tichanowskaja (37) deutlich vor Machthaber Lukaschenko. Beobachter gehen von einem eigentlichen Erdrutschsieg für sie aus.
Nach Litauen geschmuggelt
Tichanowskaja erkennt das Wahlresultat ebenfalls nicht an. Wegen Drohungen hatte sie bereits vor den Wahlen ihre beiden kleinen Kinder ins Ausland bringen lassen. Nun hat auch sie selber ihr Land verlassen, offenbar in Richtung Litauen.
Litauens sozialdemokratischer Aussenminister Linas Linkevicius (59) twitterte: «Swetlana Tichanowskaja ist in Sicherheit. Sie ist in Litauen.» Noch wenige Stunden zuvor hatte er besorgt geschrieben: «Versuchte während mehrerer Stunden, Swetlana Tichanowskaja zu erreichen. Ihr Aufenthaltsort war nicht mal ihren Mitarbeitern bekannt. Besorgt um ihre Sicherheit.»
Die belarussischen Behörden selbst hätten die Kandidatin ausser Landes gebracht, sagte Tichanowskajas Vertraute Olga Kowalkowa in Minsk dem Portal tut.by zufolge. «Sie hatte keine Wahl. Wichtig ist, dass sie in Freiheit und am Leben ist.» Tichanowskaja habe mit ihrer Flucht auch die Freilassung ihrer Wahlkampfleiterin, Maria Moros, erreicht. Moros sei eine «Geisel» gewesen, beide reisten demnach gemeinsam aus.
Experten gingen zunächst nicht davon aus, dass die Ausreise Tichanowskajas zu einem Abflauen der Proteste führt. «Sie ist vor allem die Symbolfigur und kann auch aus dem Ausland mit Videos Botschaften senden», sagte die belarussische Analystin Maryna Rakhlei der Deutschen Presse-Agentur am Dienstag. Tichanowskaja sei zuletzt Gefahr gelaufen, verhaftet und wegen der Zerstörungen und Gewalt mit Toten und Verletzten angeklagt zu werden.
Ihr Mann Sergej Tichanowski (41), ein regierungskritischer Blogger, sitzt in Haft. Tichanowskaja war an seiner Stelle bei der Wahl angetreten und hatte als einzige Oppositionelle eine Zulassung als Kandidatin erhalten.
Blutige Nacht
In der Nacht zum Dienstag kam es bei Demonstrationen erneut zu blutigen Zusammenstössen mit der Polizei. Tausende Menschen waren auf den Strassen unterwegs, die meisten davon in der Hauptstadt Minsk. Für den Abend sind erneut Proteste angekündigt. Unklar war zunächst, wie Staatschef Alexander Lukaschenko darauf reagieren wird.
Bereits die zweite Nacht infolge kam es landesweit zu Protesten, gegen die die Sicherheitskräfte hart vorgingen. In sozialen Medien gab es vielfach Videos, die zeigten, wie Uniformierte auf Menschen einprügelten. Es kursierten zudem Berichte, wonach die Polizei Blendgranaten abfeuerte, um Demonstranten auseinanderzutreiben. Auch Gummigeschosse sollen eingesetzt worden sein.
Sprengsatz in der Hand explodiert
In 33 Orten des Landes habe es Aktionen gegeben, berichteten Medien. In Minsk kam es dabei zu einem tödlichen Zwischenfall. Nach Darstellung der Behörden soll am Montagabend ein Sprengsatz in der Hand eines Mannes explodiert sein, den er auf Spezialeinheiten der Polizei habe werfen wollen. Es gab Berichte von vielen Verletzten. Eine Zahl lag zunächst nicht vor. Im Internet wurden Bilder von blutüberströmten Menschen veröffentlicht.
Es gab zudem Medienberichte, wonach schwere Militärtechnik in das Zentrum von Minsk gebracht worden sei. Lukaschenko hatte im Wahlkampf mit dem Einsatz der Armee gedroht, um Putschversuche zu verhindern. In Minsk versuchte die Polizei, die Menschen aus dem Stadtzentrum zu vertreiben. An einigen Stellen wurden Barrikaden errichtet.
Polizisten wechseln die Seite
Nach Meinung von Beobachtern war die Nacht zum Dienstag von noch mehr Gewalt geprägt als die zum Montag, als es etwa 100 Verletzte und 3000 Festnahmen gegeben hatte. In sozialen Netzwerken kursierten Fotos von Uniformierten, die sich demonstrativ auf die Seite der Demonstranten stellten. Sie wurden als «Helden» gefeiert.
Am Dienstag um 12 Uhr soll ein landesweiter Streit beginnen. Bereits sollen Stahlfabrik-Arbeiter in Zhlobin am Morgen ihre Arbeit niedergelegt haben. Kommentatoren sprechen von der «Geburt der Nation Belarus», die sich rund 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erst jetzt so richtig eine Identität gebe und sich abnabeln wolle vom grossen Nachbarn Russland. (gf/SDA)