Von Mao über Deng zu Xi - 70 Jahre Volksrepublik China
Chaos, Reformen und eine harte Hand

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg im Bürgerkrieg gegen die nationalchinesischen Truppen gründen die Kommunisten am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik. Wie hat sich China seitdem verändert?
Publiziert: 27.09.2019 um 17:45 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2021 um 16:30 Uhr
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China feiert 70 Jahre Volksrepublik.
Foto: AFP

Xi Jinping drückt China eigenen Stempel auf

Unter dem Revolutionär Mao Tsetung hat sich China erhoben, unter dem Reformer Deng Xiaoping ist es reich geworden und unter Staats- und Parteichef Xi Jinping ist die Volksrepublik zur neuen Macht in der Welt aufgestiegen. Heute, im 21. Jahrhundert, knüpft Xi Jinping mit einer ideologischen und politischen Rolle rückwärts wieder da an, wo China im 20. Jahrhundert mal angefangen hat.

Wie der «grosse Steuermann» Mao Tsetung hat er alle Macht an sich gerissen. Wie eine Krake greift die Kommunistische Partei wieder mit langen Armen tief ins politische und gesellschaftliche System ein. Und die Gedanken des Milliardenvolkes sind weniger frei als vor Jahren.

Riesige Militärparade als Machtdemonstration

Um den neuen Grossmachtanspruch zu untermauern, wird der 70. Jahrestag der Gründung der kommunistischen Volksrepublik am Dienstag mit der grössten Militärparade seiner Geschichte gefeiert - eine Machtdemonstration mit 15'000 Soldaten, Interkontinentalraketen und modernen Waffensystemen.

«Erstens sendet es die Botschaft, dass das Regime mehr als 70 Jahre überleben kann - anders als die Sowjetunion, die nur 72 Jahre dauerte», sagt der unabhängige Ex-Politikprofessor Wu Qiang. «Zweitens ist es eine persönliche Show von Xi Jinping, seiner Autorität, seiner Kontrolle über das Volk und das Regime.»

Bei der Gründung 1949 ist China ein grosses armes Land gewesen. «Aber heute, angeführt von Xi Jinping, steigt es zur Supermacht auf», sagt der Professor. «Das ist es, was Xi Jinping seinem Volk und der Welt zeigen will.»

Auch China steht unter Druck

Das Säbelrasseln und die Propagandaschau überdecken, dass China an mehreren Fronten unter Druck oder gar in der Krise steht. Der Handelskrieg mit den USA unter Präsident Donald Trump und der «neue Kalte Krieg», wie es Peking sieht, sind die grösste Herausforderung seiner «Ära».

Die zweitgrösste Volkswirtschaft wächst nur noch langsamer, die Schulden steigen in den Himmel, das Leben wird härter. Und am Rande des Riesenreiches, in Hongkong, bröckelt es.

Proteste in Hongkong

Seit fünf Monaten wird in der chinesischen Sonderverwaltungsregion demonstriert. Längst geht es nicht mehr allein gegen die tapsige Marionettenregierung, sondern um freie Wahlen und eine Abkehr vom übermächtigen China. Mit Protesten wollen Aktivisten der Führung in Peking die Geburtstagsparty vermasseln.

Um die Stimmung in der ehemaligen britischen Kronkolonie abzukühlen, demonstrierte Xi Jinping zunächst etwas Entgegenkommen - ähnlich wie in dem seit mehr als einem Jahr anhaltenden Handelskrieg mit den USA. Aber es könnte sich nur als vorübergehender, taktischer Rückzug erweisen.

Handelsstreit mit den USA als «langer Marsch»

Im Umgang mit den USA schwört Xi Jinping sein Land längst auf einen neuen «langen Marsch» ein. Sein Vergleich mit dem Rückzug der Roten Armee im Bürgerkrieg gegen die nationalchinesischen Truppen deutet auf ein Kräftesammeln, eine Neuausrichtung hin.

So häufig wie kein anderer seit Mao Tsetung benutzt Xi Jinping das Wort «Kampf» (Douzheng). Es richtet sich gegen innere wie äussere Feinde. In dem Bericht der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua über seine Rede Anfang des Monats an der Parteischule taucht «Douzheng» 56 mal auf.

China sorgt mit globaler Expansion für Irritation

Nicht nur aus den USA, sondern auch aus anderen Ländern gibt es Gegenwind. Galt aussenpolitisch lange die zurückhaltende Maxime des Pragmatikers Deng Xiaoping, «die Stärke verstecken und auf den richtigen Augenblick warten», tritt China unter Xi Jinping offen selbstbewusst auf.

Die Territorialansprüche im Südchinesischen und Ostchinesischen Meer werden kämpferisch vertreten. Die USA und asiatische Nachbarn sehen allerdings Chinas Territorialansprüche kritisch. Peking beansprucht mehr als 80 Prozent des Südchinesischen Meeres und baut Militäranlagen auf Inseln. Der internationale Schiedshof in Den Haag wies die Ansprüche im Juli 2016 zurück.

Mit der Infrastrukturinitiative der «Neuen Seidenstrasse» baut Peking seinen Einfluss in der Welt aus. Chinas neue Wirtschaftskraft ist der politische Hebel. Mit geballter Finanzkraft erweitern Chinas Staatsmedien weltweit ihre Reichweite. Das sorgt für Irritationen.

Jeder soll reich werden

Auch im Land ist «Kampf» angesagt. «Er hat gesagt, ihr werdet alle reich», sagt der China-Kenner und Präsident der EU-Handelskammer in Peking, Jörg Wuttke. So hat Xi Jinping versprochen, bis zum 100. Geburtstag der Partei 2021 die Wirtschaftsleistung pro Kopf gegenüber 2010 zu verdoppeln.

Auch will er bis zum 100. Geburtstag der Volksrepublik 2049 eine «voll entwickelte, reiche und mächtige» Nation geschaffen haben. Ob sich der «chinesische Traum» erfüllt? «Kampf heisst ja nicht, dass alle reicher werden», sagt Wuttke.

Eine Führung kontrolliert alles im Land

Um sich der Loyalität zu versichern und das Kommando von oben nach unten zu stärken, führt die Partei wieder alles im Land. Nicht der Ministerpräsident und seine Minister regieren das Land, sondern mächtige Führungsgruppen und Kommissionen der Partei.

«Xi Jinping stellt die Partei wieder in den Vordergrund, indem er ein zentrales, hierarchisches System mit sich selbst als Führer in der Mitte bildet», stellt das China-Institut Merics in Berlin fest. Damit wachsen die Ineffizienz und das Risiko, dass er persönlich für jeden Missstand, jede Krise und jedes Versagen verantwortlich gemacht wird.

Neuer Prüfstand erinnert an Kulturrevolution

Strengere Ideologisierung, Kontrolle, Zensur und Propaganda sind ein Rückfall in alte Zeiten. Wie einst das «kleine rote Buch» von Mao Tsetung müssen heute alle Xi Jinpings «Gedankengut für eine neue Ära des Sozialismus chinesischer Prägung» studieren. Selbst Manager müssen sich plötzlich Tests unterziehen, wie gut sie den grossen Führer verstanden haben.

«Ich habe das gleiche Gefühl wie in der Kulturrevolution», erinnert eine Autorin an die Gesinnungsschnüffelei und das Chaos zwischen 1966 und 1976. «Selbst meine Freunde trauen sich nicht mehr, mir ehrlich ihre Meinung zu sagen.»

«Wandel durch Handel»-Maxime funktioniert nicht

Die Hoffnung auf «Wandel durch Handel» entpuppt sich heute als naiv. Menschenrechtler und ihre Anwälte werden inhaftiert. Hunderttausende Uiguren stecken in Umerziehungslagern.

Auch wirtschaftlich gibt es eine Rolle rückwärts. Die Staatswirtschaft erstarkt. Subventionen unterstützen den Aufkauf von Hi-Tech-Firmen in Europa. Markthürden schützen Chinas Firmen vor ausländischer Konkurrenz.

Als Reaktion werden in Europa die Rufe nach Finanzhilfen, einem staatlichen «Masterplan» und Schutz vor Übernahmen lauter. «Wandel durch Handel» sei jetzt eher in Europa zu erleben, sagt EU-Kammerpräsident Wuttke und scherzt: «Wir werden immer chinesischer.»

Wichtigste Daten der letzten 70 Jahre Chinas

Der Revolutionär Mao Tsetung verkündete 1949 die Geburtsstunde des «neuen Chinas». Die Chronologie zeigt, was in den letzten 70 Jahren in China passiert ist.

  • 1957-58 - Die «Hundert-Blumen-Bewegung» beginnt als grosse Aussprache, doch werden die Kritiker dann als «Rechtsabweichler» verfolgt
  • 1959-1961 - Mit dem «Grossen Sprung nach vorn» will Mao Tsetung zu den Industrieländern aufschliessen. Hungersnöte brechen aus. Schätzungsweise 30 Millionen Menschen finden den Tod.
  • 1966-76 - Nach Kritik beginnt Mao Tsetung mit «Roten Garden» die «Kulturrevolution». 15 Millionen Menschen werden auf das Land geschickt.
  • 1969 - Grenzkrieg mit der Sowjetunion
  • 1971 - China übernimmt den ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat von Taiwan, das bis dahin als Republik China vertreten war.
  • 1976 - Mao Tsetung stirbt
  • 1978 - Deng Xiaoping beginnt Modernisierung und Wirtschaftsreformen
  • 1979 - China und die USA nehmen diplomatische Beziehungen auf
  • 1980 - Mit Shenzhen bei Hongkong wird die erste Sonderwirtschaftszone errichtet, in der mit dem Kapitalismus experimentiert wird
  • 1989 - Massendemonstrationen für Demokratie und Freiheit auf dem Tian'anmen-Platz in Peking. Die Führung ist gelähmt, aber die Hardliner setzen sich durch und schicken Truppen. Bei dem Massaker sterben Hunderte.
  • 2001 - China wird in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen
  • 2011 - China überholt Japan als zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt
  • 2012/13 - Xi Jinping tritt als Staats- und Parteichef an, stellt die Partei wieder über alles und zeigt eine harte Hand

(SDA)

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