Es schien Liebe zu sein: Im vergangenen Sommer lernt die bald 60-jährige Anna* den charmanten Viktor* kennen. Viktor wohnt in St. Gallen, arbeitet beim Roten Kreuz, er ist gebildet und hat ein Herz für Mensch und Tier. So zumindest schildert es Viktor Anna gegenüber. Die beiden haben sich online kennengelernt. Schreiben auf Whatsapp mithilfe eines Übersetzungsprogramms, denn: Viktor spricht kein Deutsch und Anna kann nur schlecht Englisch.
Über mehrere Monate tauschen die beiden Nachrichten aus. Getroffen haben sie sich nie. Dennoch gewinnt Viktor ihr Vertrauen. Und irgendwann bittet er Anna um einen Gefallen. Sie solle ein Päckli für ihn entgegennehmen und dieses weiterleiten. Anna muss gar nicht viel tun. Die Briefmarke mitsamt Adresse stellt Viktor ihr zu. Anna muss die Päckli lediglich entgegennehmen, Viktor ein Foto vom Inhalt schicken und dieses zur nächsten DHL-Stelle bringen. «Da steckte ich schon drin, ohne es zu wissen», sagt Anna zu Blick.
Täter nutzt Gutgläubigkeit aus
Wie Recherchen zeigen: Die Päckli wurden nach Ghana in Westafrika geschickt. Darin enthalten: Mobiltelefone, die über gestohlene Login-Daten gekauft wurden. Auch Blick-Leser Daniel K.* ist betroffen. Doch die gutgläubige Anna wittert keinen Verdacht. «Ich bin jemand, die allen hilft», sagt sie niedergeschlagen ins Telefon. «Im Nachhinein kommt es mir auch komisch vor. So vieles scheint jetzt komisch.» Anna ist sich sicher: Viktor hat ihr Leben zerstört.
Bis zu 20 Pakete nimmt Anna für den Mann entgegen. Bis plötzlich Polizisten an ihrer Tür klingeln. Anzeigen aus mehreren Kantonen gingen gegen sie ein. Kürzlich wurde Anna wegen Hehlerei verurteilt. Insgesamt habe sie rund 2700 Franken zahlen müssen. Ihr ganzes Leben habe sie einen blütenweissen Leumund gehabt. Und nun prangt dieser Schandfleck im Betreibungsregister. «Ich war blind und naiv, er konnte mich so manipulieren.»
Wie Blick weiss: Auch eine andere Frau aus dem Aargau fiel den Betrügereien zum Opfer und nahm Handys entgegen. Ob weitere Frauen involviert sind, ist aktuell nicht klar.
«Ich vertraue niemanden mehr»
Bei Anna hinterlässt der Vorfall tiefe Spuren. «Ich vertraue niemanden mehr.» Die Frau traut sich nur noch zum Einkaufen raus, verkriecht sich sonst in ihrer Wohnung. Selbst Pakete will sie keine mehr bestellen. «Was, wenn wieder so ein Päckli kommt?»
Zuletzt habe Viktor sie kontaktiert, als die Polizei bereits bei ihr gewesen war – und sie auf Anraten der Ordnungshüter seine Nummer gesperrt hatte. «Er hat mir per E-Mail geschrieben, dass er mir ein weiteres Päckli geschickt hat. Dieses sei ein Geschenk für mich.» Doch Anna ist nun schlauer. Sie informiert sofort die Polizei und schickt das Paket an die Firma zurück.
Anna ist untröstlich: «Es tut mir so leid für die Leute, die wegen mir zu Schaden gekommen sind.» Neben Schuldgefühlen und Scham plagt sie auch die Angst. «Viktor hat ja meine Adresse», sagt sie. Und hofft, dass er sie nun für immer in Ruhe lässt.
*Name geändert