Im April 2017 war Sebastian Kurz 31 Jahre alt und in Wien bereits Aussenminister. Damals fragte ich an dieser Stelle: «Wo ist der Sebastian Kurz der Schweiz?» Der heutige Bundeskanzler Österreichs fand in der Flüchtlingskrise intelligente Lösungen, definierte neue Regeln für die Integration, ohne ins Populistische abzugleiten, und fand dafür breite Zustimmung in ganz Europa. Er wurde zum Politstar.
Damals hätten sich viele Schweizer einen vergleichbar führungsstarken Politiker gewünscht!
Heute reibt man sich die Augen über das, was Kurz seinem Land am Wochenende verordnet hat: einen knallharten Lockdown!
In Österreich gilt eine Ausgangssperre rund um die Uhr: Die Strasse darf nur mit triftigem Grund betreten werden. Dazu kommt das Kontaktverbot: Ausserhalb ihres Haushalts dürfen die Österreicher nur eine einzige Person treffen. Restaurants, Kinos, Coiffeure, alle nicht lebensnotwendigen Geschäfte sind zu.
Unser Nachbarland greift massiv in das Privatleben seiner Bürgerinnen und Bürger ein. Kanzler Kurz meint es zweifellos ehrlich, wenn er sagt: «Es ist das einzige Mittel, von dem wir verlässlich wissen, dass es funktioniert.»
Aber stimmt das auch?
Die Schweiz zählt etwa gleich viele Einwohner wie Österreich und wies deutlich mehr Corona-Infektionen auf. Würde die Schweiz von Sebastian Kurz regiert, wäre ein totaler Lockdown fällig gewesen.
Unsere Bundesräte aber verschärften die Massnahmen nur moderat: keine Anlässe mit mehr als 50 Personen, Discoverbot, Maskenpflicht drinnen und Aufruf zum Homeoffice …
Fliesst in den Adern der Österreicher immer noch Untertanenblut wie in den Jahrhunderten der «kaiserlichen und königlichen Monarchie», dass sie sich die rigiden Massnahmen widerspruchslos gefallen lassen?
Und berauscht seine temporäre, fast absolutistische Macht den erfolgsverwöhnten Jungkanzler tief im Geheimen etwa doch?
Oder ist eine solche Politik das unausweichliche Ergebnis davon, dass ein Regierungschef im Notfall einsam entscheiden muss, dass er allein die Verantwortung trägt in einer Situation, in der keiner wissen kann, was richtig ist und was falsch?
Wie völlig anders tickt da die Schweiz!
Sieben gleichberechtigte Bundesrätinnen und Bundesräte müssen jede einzelne Massnahme diskutieren, bis sie einen Konsens finden. Die eine will eine Ausgangssperre, der andere hält Corona bloss für einen Spuk … Am Ende kommt ein Kompromiss heraus, der die Gesundheit ein bisschen schützt, die Freiheit nicht total einschränkt und die Unternehmen nicht vollends in die Pleite treibt.
Mit Glück oder Verstand – diese Woche ging die Zahl der Neuansteckungen in der Schweiz um 26 Prozent zurück.
Zugegeben: Covid-19 birgt nach wie vor viele Rätsel. Plötzlich explodieren die Zahlen, und niemand weiss, warum. Plötzlich sinken sie wieder, und man weiss ebenso wenig, warum …
Jedenfalls können wir in der Schweiz derzeit froh sein, dass wir nicht von einem Bundeskanzler namens Kurz regiert werden!