Im Herbst 2020 explodierten die Covid-Fallzahlen, die Schweiz landete im zweiten Lockdown, unser Leben wurde drastisch eingeschränkt, und wir waren uns einig: Erst ein Impfstoff bringt die Normalität zurück.
Wie sehr hätten wir uns damals gewünscht, in der Lage von heute zu sein – mit mehr als genug Impfstoff für alle!
Und wie sehr hätten wir uns gewundert, dass die Schweiz nun bei einer Impfquote von 50 Prozent herumdümpelt, dass wir damit das Schlusslicht in Westeuropa sind, dass wir die Möglichkeiten viel zu wenig nutzen, wenigstens den Geimpften endlich Normalität zu ermöglichen.
Kürzlich war ich in Paris: um die Katakomben, die Kunst in der Warenbörse, die Dachterrasse auf der Grande Arche und das Konzert unter einer Autobahnbrücke zu erleben ... Überall kam man nur mit Covid-Zertifikat rein, musste also geimpft, getestet oder genesen sein. Aber dann war es wieder wie früher: ohne Abstand, ohne Masken, ohne Angst vor Corona. Ein gutes Gefühl!
Inzwischen hat Frankreich die Zertifikatspflicht auf Restaurants, Einkaufszentren und Züge im Fernverkehr ausgeweitet. Auch Italien, Deutschland und Österreich setzen das Zertifikat seit kurzem umfassend ein.
Und das ist auch richtig so: Die Impfung gibt uns die Möglichkeit, auf andere Schutzmassnahmen zu verzichten. Wer die Spritze nicht will, muss dafür mit Einschränkungen leben oder sich immer wieder testen lassen.
Blick hat diese Woche den Grund dafür aufgedeckt, warum die Schweiz nicht nach diesem Grundsatz handelt: Bundesrat Alain Berset (49) hat Angst vor der erneuten Abstimmung über das Covid-Gesetz am 28. November.
Weil er eine Abfuhr befürchtet, will er auf alle Rücksicht nehmen und niemanden verärgern. Deshalb kommt das Zertifikat nicht überall zur Anwendung, wo es sinnvoll wäre. Typisch Berset: In seinem ganzen politischen Leben taktierte er sich durch seine Karriere und durch seine Dossiers. Oftmals mit Erfolg. Doch jetzt ist der Kniefall des Sozialdemokraten vor den Impfskeptikern falsch.
Erstens ist heute die Hälfte der Schweizer Bevölkerung vollständig geimpft, bis November wird es die Mehrheit sein. Für die Abstimmung braucht er die Impfgegner also nicht.
Zweitens zeichnet sich eine starke Führungspersönlichkeit nicht dadurch aus, dass sie es allen recht macht, sondern durch eine klare Linie. Was unter anderem bedeutet, Überzeugungen auch gegen Widerstand zu verteidigen.
Gerade Berset dürfte mit grösstem Selbstvertrauen auftreten: Die Schweiz ist so gut durch die Krise gekommen wie kaum eine andere Nation – ohne Ausgangssperren, mit kürzeren Schulschliessungen, weniger Einschränkungen für Geschäfte und geringeren wirtschaftlichen Schäden.
Lieber Alain Berset, nehmen Sie sich das Bonmot der langjährigen freisinnigen Ständerätin Christine Egerszegi (73) zu Herzen, die zu sagen pflegte: «Wer sich nach allen Seiten verneigt, stösst mit dem Hintern überall an.»