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Warum die Lüge manchmal besser ist als die Wahrheit

Die Wahrheit ist in einer Dauerkrise, und das ist für den deutschen Philosophen Peter Trawny auch gut so. Denn eine Gesellschaft, die nur auf Wahrheit beruht, kommt nicht gut.
Publiziert: 05.10.2021 um 08:48 Uhr
Jeder sieht in jedem einen Pinocchio mit langer Nase.
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ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Von Fake News bis zu alternativen Fakten, von Verschwörungstheorien bis zur Lügenpresse: Aktuell unterstellen alle allen, es mit der Wahrheit nicht ernst zu nehmen – jeder sieht in jedem einen Pinocchio mit langer Nase, sieht die hässliche Fratze von Hinterlist und Vortäuschung. Das Wahre, Schöne, Gute – die Maxime von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) – scheint nicht mehr hoch im Kurs zu sein.

«Krise der Wahrheit» nennt der deutsche Philosoph Peter Trawny (56) sein neues Buch. Doch trotz des Titels ist es kein alarmistisches Buch, denn der Leiter des Martin-Heidegger-Instituts in Wuppertal (D) ist dezidiert der Meinung, dass es keine solche Krise gebe. «Wenn in Diskussionen die Gefahr beschworen wird, Fake News könnten unser Leben zerstören», schreibt Trawny, «dann müssen wir zugleich sehen, dass diese Gefahr überaus begrenzt, um nicht zu sagen selber Fake News ist.»

Denn Tatsachen lassen sich nicht durch Falschmeldungen erschüttern. «Historische Ereignisse und natürliche Begebenheiten sind unsere Normalität», so der Philosoph. Er wisse und könne sich darauf verlassen, dass der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 endete; und er gehe mit Recht davon aus, dass er in dem Bett, in dem er einschlafe, auch wieder aufwachen werde. Trawny: «Tatsachen sind Wahrheiten, so viel steht fest.»

Also alles paletti? Nicht ganz, denn der Buchautor bestreitet nur, dass es eine akute Krise der Wahrheit gebe, weil sie vielmehr in einer Dauerkrise sei. Denn ausserhalb von Tatsachen ist manches Interpretationssache. «Eine absolute Wahrheit, welche für alle Menschen gleich wäre und insofern keinerlei Beziehung zur Individualität hätte, kann es für uns Sterbliche nicht geben», zitiert er Hannah Arendt (1906–1975).

So entbrennt seit der Antike ein Streit über die Deutungshoheit – keine Gefechte der besseren Argumente, sondern reine Interessenkämpfe. Aus der Geschichte sei bekannt, dass die Sieger die Wahrheit festschreiben, so Trawny. Und er benennt den Franzosen Maximilien de Robespierre (1758–1794) und Adolf Hitler (1889–1945), die beide im Namen der Wahrheit agierten.

«Die Wahrheit hat zu manchen Zeiten ein ungeheures Unglück über die Menschen gebracht», so Trawny. Das sei immer dann geschehen, wenn Tyrannen und Diktatoren auf Menschen trafen, die ihre von der Wahrheit verführten Überzeugungen rücksichtslos mit ihnen durchzusetzen vermochten. «In dieser Konstellation führten Ehre und Treue zu Leichenbergen.»

Nein, Peter Trawny wünscht sich keine Wahrheitsgesellschaft. Im Gegenteil: Er zieht Politiker vor, die manchmal zum Wohle des Staates lügen. Was aber nicht bedeutet, alles anzuzweifeln: «Ich frage mich, ob die Wahrheits-Krise – die Entscheidung, was Wahrheit überhaupt ist und ob es sie gibt – vom Skeptiker wirklich überwunden wird», schreibt Trawny. Denn sei der Versuch, ihr zu entkommen, nicht gerade ihre Bestätigung, fragt er rhetorisch.

Peter Trawny, «Krise der Wahrheit», S. Fischer

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