Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Navid Kermani erklärt seiner Tochter Gott und die Welt

«Das Problem der Religion ist nicht, dass sie so kompliziert ist», schreibt der deutsche Publizist Navid Kermani. «Das Problem ist, dass sie so einfach ist.» In einem hinreissenden Text an seine Tochter versöhnt er uns mit Gott.
Publiziert: 31.01.2022 um 20:15 Uhr
Der Koran, die heilige Schrift des Islam.
Foto: AFP
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Das ist nun so eine Sache: Ist ein Buch, in dem es um Fragen nach Gott geht, faktenorientiert oder reine Fiktion? Gehört es also in meine wöchentliche Kolumne über Sachbücher oder nicht? Für einige ist Gott Realität, für andere reine Erfindung. «Wo zeigt er sich denn?», möchte ich Erstere fragen und Letztere: «Wie ist dann das Wunder des Lebens zu erklären?» Da Navid Kermani (54) in seinem eben erschienenen Werk sachlich nach Antworten sucht, gehört es hier besprochen.

«Religion ist mindestens so wichtig wie Naturwissenschaft, Geschichte oder Sprache für jeden, der die Welt verstehen will, egal ob er selbst gläubig ist oder nicht», schreibt Kermani und verweist darauf, dass sich gerade unter Physikern und Mathematikern auffällig viele gläubige Menschen finden. Der habilitierte Orientalist, Schriftsteller und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015 ist ebenfalls gläubig: Er kommt 1967 in Siegen (D) als vierter Sohn iranischer Einwanderer zur Welt, wo der Vater als Arzt in einem katholischen Spital arbeitet und Navid später auf protestantisch geprägte Schulen geht.

«Religion ist eine Beziehung zwischen dem Endlichen, das wir sind, und dem Unendlichen, das auch Gott genannt wird», schreibt Kermani. Kein Zufall also, dass der Vater sterbend im Krankenhaus liegend Navid Kermani bittet, der Enkelin den Islam zu lehren, «unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, den Islam, den er als Kind in Isfahan erlebt hatte». Es ist also ein Auftragswerk an den Verfasser von «Gott ist schön» (1999) und «Der Schrecken Gottes» (2005), und die Fragen nach der höheren Macht stellt seine Teenagertochter – eine heilige Sendung an die Maus sozusagen.

«Das ist mal eine anständige Frage, die du gestern Abend gestellt hast», so Kermani an die Tochter, «was bedeutet eigentlich Islam?» Der Schriftgelehrte ist nicht verlegen um eine Antwort und sagt, «Islam» bedeute wörtlich «sich unterwerfen», «sich hingeben», «Frieden schliessen». Wie wörtlich Kermani seinen Glauben nimmt, bewies er 2014, als er wegen des Vormarsches des Islamischen Staates (IS) im Nahen Osten vor einem Genozid an Christen, Jesiden und anderen religiösen Minderheiten warnte. Und hier im Buch beweist er die friedvolle Absicht, indem er die Gottesfrage auf alle Religionen abstützt.

Den Titel zum Buch fand Kermani freilich in den Memoiren seines eigenen Grossvaters – in einer dort notierten kleinen Geschichte des Mystikers Abu Said (967–1049): Als der Erleuchtete für eine Predigt nach Tus im heutigen Iran reiste, drängten sich die Gläubigen derart in der Moschee, dass der Platzanweiser in seiner Verzweiflung ausrief: «Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.» Darauf schloss Abu Said die Versammlung und sagt: «Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt.»

Navid Kermani, «Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – Fragen nach Gott», Hanser

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