Wie vier Adventskerzen wirken die spitz zulaufenden Grabsteine der Grimms auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin. Von Ferne betrachtet meine ich zum heutigen ersten Advent einen Docht oben entzünden zu können. Doch das kann man nicht. Zudem hätte die Familie rund um die Märchensammler Jakob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), die hier neben den beiden Söhnen Wilhelms liegen, wenig Sinn für die bevorstehende Weihnachtszeit – zu schlecht sind die Erinnerungen daran.
«Weihnachtsfeste im Familienkreis können es in sich haben», schreibt Grimm-Biograf Michael Lemster (65) in seinem kürzlich veröffentlichten Buch «Die Grimms». Was bis heute Stoff für Hunderte von Satiren und Komödien liefere, «führt im Jahr 1810 im Kreis der Familie Grimm zu einer Eruption von ungeahnter Heftigkeit und zu jahrzehntelangen Verwerfungen in der Familientektonik». Weshalb sich die sechs Geschwister überwerfen, ist letztlich unklar. Lemster vermutet, dass sich der «widerborstige Ferdinand» (1788–1845) an Dorothea Wild (1793–1867) ranmachte, die seinem Bruder Wilhelm zur Ehe versprochen war.
Märchenhaft sind die Familienverhältnisse bei den Grimms kaum je: Vater Philipp Wilhelm Grimm (1751–1796) ist Jurist sowie Amtshalter im Hanauischen bei Frankfurt am Main und zeugt mit seiner Frau Dorothea Zimmer (1755–1808) neun Kinder, von denen drei das Säuglingsalter nicht überleben. Patriarchal, protestantisch und patriotisch wachsen die übrigen fünf Knaben mit der Schwester heran – kleinbürgerlich und obrigkeitsgläubig. Der gebürtige Hanauer Lemster: «Die Grimms waren keine besonders mutigen Menschen.»
Dennoch müssen die beiden Ältesten Jakob und Wilhelm immer wieder für ihre Karriere kämpfen. «Forscher wollen sie sein», so Lemster, «und der Gegenstand, den sie erforschen wollen, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar und unwürdig gewesen: das Eigene, das kulturelle Erbe der Deutschen.» Als konkrete Forschungsobjekte haben sie sich die Sprache («Deutsches Wörterbuch von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm»), Sagen und vor allem Märchen ausgesucht, die sie beim Volk aufspüren wollen. «Just die Märchen eignen sich überhaupt nicht zur Feststellung eines ‹Nationalcharakters›», schreibt Lemster, da sie zum Teil weltweit verbreitet seien.
Bei der Sammelarbeit habe das Brüderpaar zudem feststellen müssen, dass der Volksmund bei weitem nicht so gesprächig sei, wie es sich das erhofft habe. «Doch die Brüder erweisen sich als Meister der eleganten Pirouette», schreibt Lemster, der schon ein Buch über die Mozarts publizierte. «Sie geben ihren Märchen regelmässig Herkunftsbezeichnungen bei; auf diese Weise wird der Eindruck der Authentizität suggeriert.» Wie dem auch sei: Erzählungen von «Es war einmal …» bis «Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch» sind bis in die Gegenwart hinein ein Grimm’sches Markenzeichen.
Michael Lemster, «Die Grimms – eine Familie und ihre Zeit», Benevento