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Aussichten durch Einsichten

«Plagen sind ja etwas Häufiges, aber es ist schwer, an Plagen zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen», schrieb Albert Camus in seinem Roman «Die Pest». Und deshalb sind Menschen immer wieder überrascht, wenn Seuchen sie heimsuchen.
Publiziert: 01.03.2021 um 10:20 Uhr
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Aktualisiert: 26.03.2021 um 17:42 Uhr
Mark Honigbaum, Das Jahrhundert der Pandemien.
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Glaube ist etwas, das sich auf Unsichtbares bezieht: Man glaubt an Gott oder eben nicht – gesehen hat ihn noch niemand. Doch selbst dann, wenn etwas offensichtlich ist, machen das Menschen immer wieder zur Glaubenssache: Sie wollen Tatsachen nicht sehen, zweifeln Massnahmen an und laufen blindlings ins Verderben. Diesen Eindruck gewinnt, wer die detailreiche Darstellung weltweiter Seuchen des britischen Medizinhistorikers Mark Honigsbaum (60) liest.

«Das Jahrhundert der Pandemien» heisst sein kürzlich auf Deutsch erschienenes Kompendium, das eigentlich «Ein Jahrhundert Pandemien» heissen müsste, denn es endet oder beginnt nicht um 2000, sondern umreisst die Viren- und Bakterienplagen von der Spanischen Grippe 1918 bis zum Ausbruch von Corona Ende 2019. «In diesem Buch geht es um diese Ereignisse und Prozesse», schreibt Honigsbaum, «und um die Gründe, warum sie uns immer wieder überraschen, obwohl wir uns nach Kräften bemühen, sie vorherzusagen und vorbereitet zu sein.»

Zum Beispiel Aids, die tödliche Viruskrankheit, die die Menschheit seit Anfang der 1980er-Jahre bedroht – noch 2014 gab es weltweit zwei Millionen Neuinfektionen und 1,2 Millionen Menschen, die durch das HI-Virus starben. Honigsbaum zeigt auf, wie sich die öffentliche Haltung zu Aids von Gleichgültigkeit über Angst und Schrecken zu der Ansicht wandelte, dass es sich lediglich um eine weitere Infektionskrankheit handelt, die sich mit einem ganzen Arsenal von Medikamenten behandeln lässt. Eine fatalistische Haltung. Gewiss, wir alle sehnen uns nach einem sorgenfreien Leben. Doch indem man Gefahren ignoriert, ist das Dolce Vita nicht gesichert.

Was glaubte man nicht alles: «Grippe ist eine bakterielle Erkrankung und eine Bedrohung für Kleinkinder und ältere Menschen.» Die Viren der Spanischen Grippe rafften Soldaten im besten Mannesalter dahin. «Das Ebolavirus ist in den Waldregionen von Äquatorialafrika endemisch – es kann keine Grossstadt in Westafrika erreichen.» Prompt gab es Tote in der nigerianischen Millionenstadt Lagos. «Coronaviren stellen vielleicht in Krankenhäusern eine Gefahr dar, doch es ist wenig wahrscheinlich, dass sie eine globale Pandemie auslösen.» Wir wurden eines Besseren belehrt.

Das Zusammenpferchen grosser Menschenmengen auf engstem Raum in Megastädten, die stärkere Vernetzung wegen des internationalen Reiseverkehrs und die wachsende Nachfrage nach Milch und anderen tierischen Proteinen sieht Honigsbaum als Nährboden für weitere Pandemien – denn das Frettchen steht am Anfang der Spanischen Grippe, Affen lösten Aids aus und Fledertiere Ebola. «Wenn man die letzten hundert Jahre epidemischer Ausbrüche Revue passieren lässt, ist daher das Einzige, was wirklich sicher ist, dass es neue Seuchen und neue Pandemien geben wird.» Seien wir darauf vorbereitet.

Mark Honigsbaum, «Das Jahrhundert der Pandemien – eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19», Piper

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