Er sieht aus, als hätte er schon viele Jahre der Weisheit auf dem Buckel. Kahl, schrumpelig und rötlich ist sein Kopf – fast so, als wäre er die Miniaturversion eines sehr alten Menschen, inklusive den bläulichen Altersflecken. Die verlängerten, schwarzen Nackenfedern erinnern an die Versuche reifer Herren, durch das Querlegen der verbliebenden Haarsträhnen der unaufhaltsamen Glatzenbildung noch ein paar Jahre abzutrotzen. Das restliche Gefieder erscheint schmutzig schwarz und offenbart seine metallisch schimmernde Schönheit nur dann, wenn die Sonne es im richtigen Winkel trifft.
Eigentlich hat der Waldrapp keine Chance, in unserer durchoptimierten Welt der Äusserlichkeiten auch nur den Hauch von Aufmerksamkeit zu bekommen – ausser vielleicht in einem kurzen TikTok-Video mit dem Titel «Insane! Die Top5 der hässlichsten Tiere der Welt». Und doch ist der Waldrapp eine absolute Erfolgsgeschichte. Für den weltweiten Artenschutz, die (Schweizer) Zoogemeinschaft und nun auch für die Schweiz.
Der Waldrapp war bis ins 17. Jahrhundert in weiten Teilen Mittel- und Südeuropas, Nordafrikas und im Nahen Osten verbreitet, wurde dann aber in vielen Teilen, besonders durch übermässige Jagd, ausgerottet und überlebte nur in einigen kleinen Restpopulationen in Marokko, Syrien und der Türkei. Im Alpenraum war der Waldrapp 400 Jahre lang verschwunden, bevor ihn ein engagiertes Team aus Artenschützern in Süddeutschland und Österreich mit Tieren aus Zoobeständen wieder ansiedelte.
Auch Schweizer Zoos, wie beispielsweise der Zoo Zürich, der Zoo Basel oder der Tierpark Goldau, schicken seit langem in Abstimmung mit dem Europäischen Erhaltungszuchtprogramm EEP Tiere in die Wiederansiedlungsprojekte im Alpenraum und seit einiger Zeit auch nach Spanien. Der Schweizer Zooverband zooschweiz unterstützt das Wiederansiedlungsprojekt zudem finanziell. Eine der Hauptherausforderungen war, dass der Waldrapp ein Zugvogel ist und die Route durch seine Eltern oder mithilfe von anderen Artgenossen erlernen musste. Ein schwieriges Unterfangen, wenn eine Art komplett ausgestorben ist. Daher mussten die ersten Tiere mit grossem Aufwand trainiert werden, einem Leichtflugzeug zu folgen, das ihnen auf der Alpenüberquerung in die Überwinterungsgebiete vorausflog. Man kann sich vorstellen, wie viele Rückschläge ein solches Projekt verarbeiten musste. Auch heute noch sind die Kolonien nicht selbsterhaltend und es bedarf weiterer Unterstützung und den Schutz durch uns Menschen.
Umso mehr freute es uns, als 2019 das erste Mal ein Waldrapp wieder auf Schweizer Boden gesichtet wurde. Ein Tier bog auf dem Rückflug aus den Wintergebieten wohl zu weit nach Westen ab und kam in St. Gallen an. Waren die Tiere ein paar Jahre nur Transitgäste, erfolgte vor einigen Wochen der nächste Erfolg: Ein Waldrapp-Paar mit den originellen Namen «Rupert» (für das Weibchen) und «Enea» (für das Männchen) liess sich in der Region Zürich zur Brut nieder. Eigentlich brüten Waldrappe an isolierten, schwer zugänglichen Steilwänden. Rupert und Enea gingen aber mit dem Zeitgeist, ignorierten das Lehrbuch und zogen es vor, auf einem Fensterbrett eines Harley Davidson-Ladens, wenige hundert Meter vom Flughafen Zürich entfernt, zu brüten. Trotz des ungewöhnlichen und eher unruhigen Nistplatzes geht es den Elterntieren und beiden Jungvögeln sehr gut – wie man auf unserer Webcam unter zoo.ch/waldrapp live miterleben kann.
So hoffen wir, dass dies nur der Auftakt für eine erfolgreiche Wiederkehr des lang verschollenen Waldrapps gewesen ist. Ein Sinnbild für den sehr ressourcenintensiven, aber letztlich erfolgreichen Einsatz von Zoos und vielen anderen Akteurinnen und Akteuren für den lokalen und weltweiten Artenschutz.