Man kann diese Umkehrung als panische Flucht nach vorn bezeichnen: Die Betroffenen wissen um ihre Schwäche, sind sich auch bewusst, dass diese reichlich unsympathisch ist, sehen aber keinerlei Möglichkeit, etwas daran zu ändern – und tun aus schierer Hilflosigkeit einfach so, als seien sie gänzlich gegenteilig geartet. Die krankhafte Schwätzerin gibt sich also bescheiden, der Geizhals behauptet, er spendiere ständig jemandem etwas, und der rechtsextreme Hetzer präsentiert sich als der beste Freund aller Juden, Flüchtlinge und Homosexuellen. Das ist natürlich ebenso lächerlich wie absurd – es funktioniert aber, weil das Umfeld den Betrug zwar durchschaut, aber nicht anspricht.
Niemand sagt: «Entschuldige mal, du behauptest, dass du dich nicht getraust, was zu sagen, redest aber den ganzen Abend und lässt niemanden zu Wort kommen – wie passt das zusammen?» Sondern man lässt es geschehen, so wie man praktisch alles geschehen lässt. Würden wir die Schwätzerin, den Geizhals, den Hetzer, die Dränglerin, den Grabscher, den Pöbler und all die anderen Rüpel ausnahmslos, sofort und in aller Deutlichkeit zurechtweisen, änderten sie ihr Verhalten ziemlich schnell. Sie wissen jedoch, dass sie nichts zu befürchten haben. Ihr einziges Problem ist, dass sie abends im Spiegel einen Menschen erblicken, den sie nicht mögen, und das mit gutem Grund.
Mehr von Thomas Meyer
Daran etwas zu ändern, würde enormen Aufwand bedeuten, und was genau zu tun wäre, ist auch nicht klar. Also greifen Sie eben zur einfachsten Form der Psychotherapie: dem Leugnen und Verdrehen. Dabei wäre ein genaues Hinschauen auch für Ihre Bekannte hilfreich: Warum muss sie sich so zwanghaft in den Mittelpunkt stellen? Vielleicht setzen Sie sich mal mit ihr hin und stellen ihr diese Frage. Man muss die Leute ja nicht gleich blossstellen.