Kolumne «Wild im Herzen» über Kraken
Gedanken für einen Tintenfisch

Der mit einem Oscar ausgezeichnete Netflix-Dokumentarfilm «Mein Lehrer, der Krake» geht dem Publikum ans Herz. Er wirft die Frage auf: Ist es richtig, dass wir Tiere vermenschlichen?
Publiziert: 08.10.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2021 um 21:26 Uhr
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Octopus vulgaris: Für den Autor ist es in Ordnung, Fisch und Fleisch zu essen. Nicht-Veganer seien aber Tintenfischen und allen anderen Tieren ...
Foto: Getty Images/iStockphoto
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Simon JäggiSänger der Rockband Kummerbuben

Aus den Ferien in Italien haben wir eine schöne Bräune, volle Mägen und ein kleines Trauma mitgenommen. Meine Kinder haben am Strand einem Badenden zugeschaut, wie er einen Kraken minutenlang auf einen Felsen geschlagen hat. Es war kein schöner Anblick. Der Mann hat den Kraken weichgeklopft, damit er beim Kochen nicht zäh ist. Wahrscheinlich war der Oktopus schon vorher tot. Für meine Kinder wirkte die Szene aber, als würde der Krake zu Tode geprügelt. Sie haben darauf beschlossen, nie mehr Tintenfisch essen zu wollen.

Tintenfische haben nach unseren Tellern nun auch unsere Herzen erobert – dank dem Netflix-Erfolg «Mein Lehrer, der Krake». In diesem Dokumentarfilm hilft ein Krake einem Filmemacher aus einer Lebenskrise – und ist mit einem Oscar ausgezeichnet worden. Der Film wartet kaum mit biologischem Faktenwissen auf, viel eher geht es um die Gefühle des Filmemachers. Der Krake wird fast als menschliches Wesen inszeniert.

Das Mitgefühl ist ungerecht verteilt

Was haben der Film und unser Ferienerlebnis miteinander zu tun? Es geht um mehr als einen gewöhnlichen Kraken, auf Lateinisch Octopus vulgaris. Es geht für mich um die Frage, ob es okay ist, dass wir Tiere vermenschlichen.

Grundsätzlich bin ich froh um alle Menschen, die Mitgefühl mit Tieren verspüren – ausgesprochen froh! Es gibt aber ein Problem, und das betrifft mich selber genauso. Unser Mitgefühl für Tiere verteilen wir sehr ungerecht. Wir bewundern einen Netflix-Kraken, kümmern uns aber nicht um die Millionen von Meerestieren, die tagtäglich in Fangnetzen verenden. Wir verwöhnen unseren Hund, kümmern uns aber nicht um die Nutztiere, die für sein Futter gelitten haben.

Tiere essen, aber auch hinschauen

Wir Menschen sind äusserst irrationale Wesen, Gefühlstiere. Das weiss auch die Lebensmittelindustrie. Daher bemüht sie sich höchst erfolgreich, dass wir die wirklichen Verhältnisse nicht zu Gesicht bekommen, wie Tiere für uns leben, leiden und sterben. Die überfüllten Tierfabriken, die grausamen Transporte, die ekelhaften Fischzuchten: All das wird vor uns versteckt.

Für mich persönlich ist es in Ordnung, Fisch und Fleisch zu essen. Wir Nicht-Veganer sind Tintenfischen und allen anderen Tieren, die wir für unsere Ernährung nutzen, aber etwas schuldig: Wir müssen uns der Realität stellen, wie sie gehalten und getötet werden.

Simon Jäggi (41) ist Sänger der Rockband Kummerbuben und arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern.

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