Gopfried Stutz
Vom Unfall, der eine Krankheit ist

Warum die Verstauchung des Halswirbels beim Jiu-Jitsu-Kämpfer eine Krankheit ist.
Publiziert: 29.02.2020 um 11:10 Uhr
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Aktualisiert: 02.03.2020 um 06:00 Uhr
Claude Chatelain, Publizist.
Foto: Paul Seewer
Claude Chatelain

Wissen Sie eigentlich, liebe Leser, was ein Unfall ist? Ich behaupte: Sie wissen es nicht. Ich helfe nach: Der Unfall ist eine plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat. So stehts im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG).

Kapiert? Eben. Machen wir doch die Probe aufs Exempel:

Ein Mann ist beim Volleyballspiel auf den Rücken gefallen. Was meinen Sie: Unfall oder Krankheit? Blöde Frage: Natürlich Unfall. Leider nein. Dem Unfallversicherer blieben die hohen Schadenszahlungen erspart, weil die verhängnisvolle Landung in überstreckter Rückenlage erfolgte. Nach Auffassung der Bundesrichter kommt das im Volleyball häufig vor. Deshalb wird der Unfallversicherer nicht zahlungspflichtig. Es ist ein Fall für die Krankenkasse.

Eine Reiterin erleidet ein Schleudertrauma. Die HWS-Distorsion passierte, als das Pferd vom Galopp in den Schritt wechselte. Unfall oder Krankheit? Wieder falsch, sollten Sie auf Unfall tippen. Der Galopp-Schritt-Übergang ist ein gewöhnlicher Vorgang, heisst es im Gerichtsurteil. Wäre das Pferd mit den Vorderbeinen eingeknickt, so wäre es ein Unfall gewesen.

Der Jiu-Jitsu-Kämpfer verstaucht sich beim Training einen Halswirbel. Unfall oder Krankheit? Sie haben es erraten: Wieder kein Unfall. Die Richter meinten, dass beim Bodenkampf keine unkoordinierte Bewegung zu beobachten war. Anders wäre es gewesen, wenn man bei den Bewegungen etwas Aussergewöhnliches hätte feststellen können.

Ein Taucher erleidet ein Dekompressionstrauma, weil er zu rassig an die Wasseroberfläche gelangte. Was jetzt? Bingo, kein Unfall. Die Richter machten geltend, dass beim Tauchunfall kein «ungewöhnlicher äusserer Faktor» festzustellen gewesen sei.

Und wenn wir schon beim Tauchen sind: Wer vom Sprungbrett in die Tiefe springt, kann leicht ein Barotrauma erleiden. Eine Verletzung des Trommelfells, die durch einen erhöhten Druck entstehen kann. In einem solchen Fall braucht man den Unfallversicherer gar nicht erst zu bemühen. Er wird nicht zahlen. Auch das Barotrauma gilt sozialversicherungsrechtlich als Krankheit.

Zum Abrunden noch der Klassiker: Bei einem selbst gebackenen, nicht entsteinten Kirschkuchen auf einen Stein gebissen – Zahn weg: Unfall oder Krankheit? Wieder kein Unfall. Ein Unfall wäre es gewesen, wenn sich der Stein in einem angeblich entsteinten Kuchen befunden hätte.

Wären Unfälle nicht viel besser versichert als Krankheiten, müssten wir uns nicht über solche Spitzfindigkeiten aufregen. So aber haben Juristen und Gerichte immer schön zu tun. Das ist politisch gewollt. Oder ist Ihnen der Vorstoss eines Parlamentariers bekannt, der diesem Tun ein Ende setzen wollte? Es wäre mir entgangen.

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