Ferien und Flugscham
Kants Toilette

Ja, die Gletscher schmelzen und das Land ächzt unter der Trockenheit. Andererseits schmilzt das Glace an weit entfernten Stränden schöner. Wie umgehen mit diesem Zwiespalt? Vielleicht kann uns der Philosoph Immanuel Kant helfen.
Publiziert: 15.08.2022 um 00:31 Uhr
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Aktualisiert: 14.08.2022 um 18:32 Uhr
Ein Tag am Venice Beach in Los Angeles. Trotz Flugscham.
Foto: keystone-sda.ch
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Ursula von ArxJournalistin und Buchautorin

Wer von Ihnen ist in die Ferien geflogen? Trotz Hitzeflut, Hitzetoten, lodernden Wäldern? Trotz des Wissens, dass zum Beispiel jeder einzelne Passagier, der über den Atlantik fliegt und zurück, eine Tonne Gletschereis zum Schmelzen bringt?

Tatsächlich lassen sich Gefühle von Flugscham locker in die Flucht schlagen. Fliegende werden erstaunlicherweise nicht stigmatisiert wie Rauchende, im Gegenteil, sie befinden sich in bester Gesellschaft: Von 2009 bis 2019 ist die Zahl der Flugpassagiere in der Schweiz kontinuierlich gestiegen. Und bereits ist sie wieder ähnlich hoch wie im Rekordjahr vor der Pandemie.

Ein Einzelner kann doch nichts ausrichten

So versandet nach der Corona-Krise die Klimakrise in der Vorfreude auf das Meeresrauschen an Los Angeles' Venice Beach, an dessen Strandpromenade jeder macht, was er will. Wo in sich verkapseltes Dasitzen so ungestört bleibt wie der Mann im viel zu warmen, viel zu grossen Anzug, der aus Lautsprechern unaufhörlich von Jesus kündet.

Während ein anderer wie festgezurrt am Rand des Skateparks steht, Selbstgespräche führend, und einen Bagel vors rechte Auge drückt, durch dessen Loch er die vor ihm liegende Szenerie beguckt. Diese Selbstvergessenheit.

Warum sollte ausgerechnet man selbst auf solche Reisen verzichten? Als ob man damit das Klima retten könnte.

Der Mensch ist ein Herdentier

Stimmt, kann man nicht. Ob sich ein Einzelner klimafreundlich verhält oder nicht, spielt fürs Klima wohl kaum eine Rolle. Einerseits.

Andererseits sind Menschen Herdentiere. Jeder verändert mit seinem Verhalten das Verhalten der anderen mit.

Und vielleicht ist die Frage, ob klimafreundliches Handeln einen Nutzen bringt oder nicht, sowieso falsch gestellt, grundsätzlich. Vielleicht sollte man – auch um lahme Entschuldigungen zu verunmöglichen – die Frage moralisch stellen: Ist es gut und richtig, sich klimafreundlich zu verhalten?

Hilfe von Kant

Dies zumindest fordert Armin Falk in seinem Buch «Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein ... und wie wir das ändern können: Antworten eines Verhaltensökonomen». Falk schlägt vor, Kants moralisches Prinzip des kategorischen Imperativs auf das Klima anzuwenden: Zeige ein Konsumverhalten, von dem du zugleich wollen kannst, dass es 7,5 Milliarden Menschen auch zeigen!

Etwas bodenständiger ausgedrückt bedeutet dies, dass man sich auf der Welt verhalten soll wie auf einer öffentlichen Toilette: Man verlasse sie bitte so, wie man sie vorfinden möchte. Und alles wird gut.

Ursula von Arx hat beim Flug über den Atlantik diesen Sommer nur einen leisen moralischen Stachel gefühlt. Und sich dennoch geschworen, dass dies das letzte Mal war. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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