Der Präsident des ETH-Rates, Michael Hengartner, erklärt
Das Dilemma mit den Tierversuchen

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rates – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft. Diese Woche: Wieso Tierversuche leider noch notwendig sind.
Publiziert: 23.05.2020 um 15:14 Uhr
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Aktualisiert: 23.05.2020 um 20:28 Uhr
Michael Hengartner (53) ist Präsident des ETH-Rates und Kolumnist im SonntagsBlick Magazin. Zuvor war der Biochemiker Rektor der Universität Zürich.
Foto: Nathalie Taiana
Michael Hengartner

Letzten Herbst war ich im «Kassensturz». Das Thema waren Tierversuche. Vor dem Interview wurde ein Bericht aus einem privaten Labor gezeigt, in dem Tiere unnötig leiden mussten. Schreckliche, aufwühlende Bilder!

Auch wenn Tierversuche mit den höchsten ethischen Standards durchgeführt werden, bleiben sie ein ewiges Dilemma. Einerseits sind noch heute viele medizinische Fragen ohne Tierexperimente nicht zu beantworten, so beispielsweise wie unser Immunsystem funktioniert. Wissen, das uns in der jetzigen Krise zur Bekämpfung des neuen Coronavirus wieder zugutekommt. Manchmal sind Tierversuche sogar per Gesetz vorgeschrieben, beispielsweise bei der Zulassung von neuen Medikamenten. Anderseits wollen wir so wenig Tierversuche wie möglich.

In der Schweiz werden jährlich etwas mehr als eine halbe Million Tiere für Tests verwendet. Zum Vergleich: Für unseren Fleischkonsum landen jedes Jahr über 70 Millionen Tiere beim Metzger. Rund drei Viertel der Versuchstiere sind Mäuse. Und bei 70 Prozent der Versuche muss das Tier gar keine oder nur leichte Schmerzen (etwa zur Blutentnahme) ertragen.

Die Zahlen geben eine ungefähre Einordnung, aber mit Zahlen löst man kein moralisches Problem. Einem Tier, das starke Schmerzen aushalten muss, nützt es überhaupt nichts, dass viele andere Versuche schmerzlos sind. Was können wir also tun?

Es gibt grundsätzlich drei Ansätze, die man verfolgen kann. Diese sind als die 3R-Prinzipien bekannt. 3R steht für «replace, reduce, refine», also ersetzen, verringern, verbessern. Erstens müssen wir uns bei jedem Tierexperiment fragen, ob man die wissenschaftliche Frage nicht auch mit anderen Ansätzen beantworten kann. Zweitens sollen für jedes Experiment so wenig Tiere wie möglich eingesetzt werden. Und drittens muss bei jedem Experiment das Tierleiden aufs absolute Minimum, idealerweise auf null, reduziert werden.

Langfristig ist der Ersatz von Tierexperimenten durch Alternativmethoden der zielführendste Ansatz. Das geht beispielsweise dank «big data». Kennt man die Struktur einer neuen Chemikalie, kann der Computer aufgrund bestehender Daten ähnlicher Stoffe die Wahrscheinlichkeit berechnen, ob diese Substanz giftig ist oder nicht.

Noch spannender finde ich den Ansatz, statt ganzer Tiere bloss einige Zellen zu verwenden. So wird die Giftigkeit von Wasserproben und neuen Chemikalien oft an Fischen geprüft. Kristin Schirmer von der EAWAG hat nun ein Verfahren entwickelt, bei dem es statt ganzer Fische bloss noch einige Kiemenzellen braucht, die im Reagenzglas gezüchtet und getestet werden können. Das System funktioniert und ist erst noch billiger!

Billiger, wenn der Test einmal steht. Die Entwicklung von Alternativen ist aber teuer. Wenn es uns ernst ist mit dem Ziel, Tierexperimente zu ersetzen, müsste hier viel mehr investiert werden. Wenn wir für jeden Franken, der für Tierexperimente ausgegeben wird, nur schon zehn Rappen in die Entwicklung von Alternativen investieren würden, könnte die Schweiz ein Mekka für Alternativtesting werden.

Eine solche Entwicklung wäre sowohl ethisch wie auch wirtschaftlich attraktiv. Mir gefällt diese Idee gut – beschliessen müsste so etwas aber die Politik.

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