Die Macht der Neugier
Friede fällt nicht einfach vom Himmel

Der zu Weihnachten viel beschworene Friede fällt nicht einfach so vom Himmel. Ihn müssten wir schon selber erarbeiten. Und das geht nicht nur Christen etwas an.
Publiziert: 19.12.2021 um 12:50 Uhr
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Josef Hochstrasser war bis zu seiner Heirat römisch-katholischer Priester. Heute ist er reformierter Pfarrer.
Foto: Thomas Meier
Josef Hochstrasser*

Die Römer hatten ihren Sol invictus, den unbesiegbaren Sonnengott. Die Germanen feierten die Wintersonnenwende. Die Christen erinnern sich zu Weihnachten noch immer an ihren Jesus und an die Mythen, die sich um ihn ranken. Doch, kann diese Erinnerung im 21. Jahrhundert noch etwas bewirken?

Den Juden Jesus ben Joseph hat es wirklich gegeben. Auch kritische Historiker sind sich darin einig. Ungewiss ist aber, was er alles gesagt hat. Er hat nichts aufgeschrieben. Über seine Taten haben Leute berichtet, die ihn nicht persönlich gekannt haben. Wie ein Märchen lesen sich die Berichte über seine Geburt. Ist Jesus also doch nur eine Figur der Fantasie? Nein! Als junger Mann brachte er ein handfestes Programm in die Welt und lebte es, mit allen Konsequenzen. Er wirkte überzeugend, schuf menschenwürdige Verhältnisse, wo immer er auftauchte. Die Mythen über ihn entstanden erst nach seinem Tod. Mit ihnen wollten seine Anhänger ausdrücken, dass sich Menschen zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden von den Taten Jesu inspirieren lassen können. Mythen sind allerdings nicht bloss unterhaltsame Plaudereien. Sie erzählen vielmehr von urmenschlichen Themen, Fragen und Sehnsüchten und drängen darauf, sie in der realen Welt zu bearbeiten.

Es gibt ein Eigenschaftswort, das eines der zentralen Anliegen Jesu auf den Punkt bringt. Schon mit den Geburtslegenden taucht es auf. Gemeint ist das Wort «neugierig». Der Ausdruck entwickelt eine starke Kraft. Wer neugierig ist, verlässt Althergebrachtes, sehnt sich nach neuen Erfahrungen, setzt eine Entwicklung in Gang. Ein neugieriger Mensch ist offen und kommunikativ.

Für einen speziellen Menschen interessierte sich auch Jesus. In der Stadt Jericho lebte Zachäus, ein Zöllner. Wegen seiner Zusammenarbeit mit den verhassten Römern lag er in der Gunst frommer Juden weit unten. Überdies knöpfte er den Leuten viel zu viele Zollgelder ab. Es sprach sich herum, Jesus sei in der Stadt. Ein Publikumsmagnet. Alle wollten ihn sehen. Auch Zachäus. Weil er klein gewachsen war, stieg er auf einen Maulbeerfeigenbaum. Jesus entdeckte ihn. Er war neugierig auf den Zöllner, rief ihn vom Baum runter und kehrte bei ihm ein, weil er herausfinden wollte, warum Zachäus betrügt. Jesus liess sich auf ihn ein. Im offenen Gespräch stiessen die beiden auf die Ursache der krummen Geschäfte des Zöllners. Das hatte Konsequenzen. Zachäus verteilte das ergaunerte Geld unter die Armen. Fazit: Jesus strickt nicht die übliche Masche der Spaltung in Gut und Böse. Es geht ihm nicht um Schuldzuweisung. Er ist neugierig zu entdecken, warum Zachäus betrügt. Diese Neugier führt am Ende zur Heilung des Zöllners.

Zurück zum Mythos der Geburt Jesu. Der Legende nach waren es Hirten, die als Erste neugierig waren auf die Geburt eines ausserordentlichen Menschen. Der historische Jesus wird sich später denn auch vornehmlich einfachen Leuten zuwenden, wie es Hirten waren. Ferner traten Weise aus dem Osten auf. Der Mythos erzählt, sie seien zwar an einer besonderen Planetenkonstellation interessiert gewesen. Als Vertreter einer anderen Kultur waren sie aber ebenso gespannt, was für eine neue Weltanschauung sich in Palästina mit dieser legendären Geburt Bahn breche. Von Neugier getrieben sah sich auch König Herodes. Seine Neugier entsprang jedoch einem ganz anderen Motiv. Er zielte sie direkt auf die Vernichtung eines potenziellen Konkurrenten. Das niederträchtige Interesse König Herodes’ zeigt: Neugierig sein ergibt nicht in jedem Fall ein positives Resultat. Entscheidend für die Legitimität von Neugier ist die Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse.

Es bleibt die Frage: Warum sollten wir heute noch immer neugierig sein? Diese Eigenschaft ist aktuell von höchster Bedeutung. Die Pandemie überschattet auch das bevorstehende Weihnachtsfest. Sie spaltet die Gesellschaft. Blockdenken verhindert ein vereintes Vorgehen gegen das Virus. Verschwörungstheoretiker verharren festgefahren in ihrem geistigen Bunker. Entsprechend verhärten sich Regierungstreue. Gespräche zwischen den Blöcken verstummen. Unfriede grassiert. Wer sich aber nicht bewegt, ist meilenweit davon entfernt, neugierig auf die Überlegungen Andersdenkender einzugehen. Genau dies würde aber buchstäblich die Not wenden. Wer in diesen Tagen bei aller berechtigten Weihnachtsfeierlichkeit auch dem Mythos der Geburt Jesu Raum schafft, entdeckt dort das gestaltungsmächtige Wort «neugierig». Diese unscheinbare Eigenschaft könnte eine schier für unmöglich gehaltene Dynamik entwickeln. Wer sehnt sich denn nicht nach einer gemeinsamen Befriedung der Pandemie?

Sie mögen denken: Das sind zwar schöne Gedanken. Sie sind aber chancenlos. Ich frage: Was ist denn die Alternative? Eben! Das sattsam Bekannte: Spaltung, Egoismus, Rechthaberei, Hass …

Der alljährlich zu Weihnachten viel beschworene Friede fällt nicht einfach so vom Himmel. Ihn müssten wir schon selber erarbeiten. Und dabei sind nicht einmal die Christen allein gefordert.

*Josef Hochstrasser (74) war bis zu seiner Heirat römisch-katholischer Priester. Seither ist er reformierter Pfarrer. Hochstrasser hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt das 2017 im Zytglogge-Verlag erschienene «Die Kirche kann sich das Leben nehmen – Zehn Thesen nach 500 Jahren Reformation».
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