#aufbruch mit Patrizia Laeri
Das Jahrhundert der Einsamkeit

Zoom-Meetings, Clubhouse-Talks und Familie zum Trotz: Der Lockdown macht uns einsamer. Dagegen hilft vorerst nur eins: ein Schritt ans Fenster oder auf den Balkon.
Publiziert: 03.02.2021 um 06:16 Uhr
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Aktualisiert: 16.03.2021 um 19:37 Uhr
Einsamkeit verursacht hohe Kosten für die Volkswirtschaft, sagt Patrizia Laeri.
Foto: Thomas Buchwalder
Patrizia Laeri

Die Freundin schickt ein Bild. Es zeigt sie im Homeoffice mit Ringlampe und Mikrofon. Stilvoll. Dem Bild würden auf Instagram viele Herzen zufliegen. Dazu schreibt sie: «Ich vereinsame.» Es klingt wie die Überschrift zum derzeitigen Lockdown-Leben.

Auch ich fühle mich einsam – erstmals seit Jahren. Und doch bin ich auch im Lockdown ständig umgeben von Familie, Katze und Video-Calls. Wie kann das sein? Psychologen bestätigen: Einsam kann man auch im Team, im Grossraumbüro oder in Zoom-Gruppen sein.

Die stille Pandemie

Was ist Einsamkeit genau? Einsamkeit sei wie ein Hungergefühl und so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag. Es betrifft längst nicht nur ältere, sondern vor allem auch junge Menschen, gar Kinder. Ärzte sagen: Einsamkeit kann krank machen, Psyche und Körper befallen. Von der Depression bis hin zur Phobie. Vom Schnupfen bis hin zum Schlaganfall.

Politologen stellen fest: Einsamkeit macht extremer und anfälliger für Verschwörungstheorien. Und Ökonomen würden sagen: Einsamkeit verursacht enorme volkswirtschaftliche Kosten.

In Grossbritannien hat man die Einsamkeit deswegen bereits 2017 zur Epidemie erklärt und unter Premierministerin Theresa May einen eigenen «Minister of Loneliness» ernannt.

Unterschätzt wird gerade auch die Einsamkeit am Arbeitsplatz und bei der Temporärarbeit. Manch einem Menschen wird es wohl auch erst jetzt in der Pandemie bewusst, wie isoliert und abgehängt sich Arbeiten als Plattform-Arbeiterin oder Freelancer anfühlen kann. Eine Arbeitsform, die für viele Menschen schon Realität ist.

Die grosse Vereinzelung

Wer sich einsam fühlt, ist nicht allein. Seit der Pandemie haben Menschen aus aller Welt das Wörtchen «einsam» so oft in die Suchmaske eingegeben wie noch nie. Was also dagegen tun? Auf Dating- und Social-Media-Plattformen ausweichen? Klar ist: Einsamkeit ermöglicht mittlerweile Milliarden-Börsengänge. Die Dating-App-Industrie ist in der Pandemie explodiert. Auch neue Social-Media-Plattformen wie Clubhouse, auf der wir uns nur zum Reden treffen, wachsen rasant. Viele Audio-Räume erinnern dann auch an Selbsthilfegruppen.

Das Problem mit Social Media: Es kann noch einsamer machen und reale soziale Begegnungen vermindern. Das beschreibt die britische Ökonomin Noreena Hertz. Sie hat mit ihrem soeben erschienenen, umfassenden Werk «The Lonely Century» wohl eines der wichtigsten Bücher unserer Zeit verfasst.

Wir müssen das Lokale stärken

Ihr Fazit ist klar: Wir müssen wieder mehr in die Infrastruktur der Gemeinschaft investieren, das Lokale stärken, Gemeinden und Nachbarschaften. Sie spricht sich aus für Projekte, die Menschen zusammenbringen. Vor allem auch Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, wie es beispielsweise die Zeitung «Die Zeit» initiiert hat.

Hertz plädiert aber auch für die Wiederbelebung von Gewerkschaften. Für den Ausbau von Kitas, Jugendclubs und Alterstreffs. Und immer wieder betont sie, wie wichtig es sei, in der Nachbarschaft verwurzelt zu sein. Der erste Schritt aus der Einsamkeit führt also auf den Balkon oder ans Fenster. Winken Sie mal wieder und sprechen Sie miteinander.

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