Der gelernte Feinmechaniker und Techniker Sascha Rettenmund wirkt reflektiert und motiviert, wenn er über seine Lebenssituation erzählt. Das war über einen langen Zeitraum anders. Früher arbeitete er als Leiter Produktionslogistik in der Luxus-Uhrenbranche, bevor er mit viel Herzblut und Kapital aus der Pensionskasse eine Bar umbaute und sich selbständig machte.
Aber unmittelbar nach der Eröffnung kam Corona. Ohne Einkommen verlor Rettenmund erst seine Wohnung und nach wenigen Monaten folgte der Konkurs des Bar-Start-ups im Kanton Solothurn. Der Single-Mann verlor mit der Corona-Pandemie praktisch alles.
Statt Lohn eine eigene Jurte
Einige Monate war er teilweise obdachlos, lebte zeitweise bei seiner Mutter und wurde zunehmend depressiv, bis er in einer gemeinnützigen Organisation im sozialen Bereich eine neue Aufgabe und wieder Lebensfreude fand. Die berufliche Neuorientierung war gleichzeitig der Startschuss für ihn als Jurtenbesitzer. «Ich habe mir meine Jurte im Wert von rund 25'000 Franken erarbeitet und auch selber aufgebaut», sagt Rettenmund.
In seiner neuen Aufgabe als Sozialbegleiter mit Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen war Rettenmund mit den Jugendlichen unter anderem als Jurtenbauer auf einer Alp tätig und lernte unter einfachsten Bedingungen in der Natur zu leben. Als Lohn erhielt er für seine Arbeit eine traditionelle mongolische Jurte, die von einer Familie in einem kleinen Dorf in der Mongolei in Handarbeit hergestellt und in die Schweiz importiert wurde. «Mit dem Verkauf der Jurten können in der Mongolei inzwischen mehrere Familien im Dorf ein Einkommen generieren», erklärt Rettenmund.
Gesetzliche Hürden erschweren die Standplatzsuche
Auf der Suche nach einem Standplatz für seine Jurte sah sich Rottenmund mit den gesetzlichen Hürden und unterschiedlichen Regelungen konfrontiert. «Obschon Jurten eigentlich Zelte sind, werden sie wie Tiny Houses behandelt und erfordern meistens eine Baubewilligung. Es ist daher sehr schwierig, einen bewilligten Standort zu finden», weiss er. Fündig wurde er auf einem Campingplatz im Waadtländer Jura, wo er seit März 2023 lebt und neben seiner nebenberuflichen Tätigkeit als Jurtenbauer auch Teilzeit arbeitet.
Sein Standplatz auf dem Campingplatz mit einem kleinen Sitzplatz kostet ihn monatlich 350 Franken. Rettenmund schwärmt von der Ruhe, der Natur und vom Zwitschern der Vögel und sagt: «Die Jahreszeiten erlebt man in einer Jurte viel intensiver, und ich habe den schonenden Umgang mit vorhandenen Ressourcen erlernt. Man kann auch mit wenig glücklich sein». Mit diesem entschleunigten und bescheidenen Lebensstil in seiner Jurte konnte Rettenmund Geld sparen und wieder Energie tanken.
Kurze Aufbauzeit mit individuellen Ausbaumöglichkeiten
Der Bau der Jurte und der Einzug im März 2023 erfolgte innert kürzester Zeit. Für die Bodenarbeiten am Standort auf dem Campingplatz benötigte Rettenmund lediglich einen Tag. Einen weiteren Tag brauchte er für den Aufbau der mehrschichtigen Jurte mit einem Durchmesser von sieben Metern. Seine handwerkliche Ausbildung kam ihm dabei zugute. «Man sollte nicht unbedingt zwei linke Hände haben, wenn man eine Jurte bauen will», sagt er lachend.
Auf 35 Quadratmetern Wohnfläche hat Rettenmund fast alles, was er braucht: Eine Mini-Küche, einen alten Kachelofen, damit er im Winter heizen kann, einen gemütlichen Wohn- und Essbereich, sowie sein selber gebautes Bett mit Stauraum. Dusche und Toilette nutzt er auf dem Campingplatz und Wasser zum Kochen und für den Abwasch schleppt er im 25-Liter-Kanister in seine Jurte. «In Jurten lassen sich aber auch Dusche, WC und komfortablere Küchen einbauen und mit Solarstrom für eine Elektroheizung kann man im Winter, wenn nötig, heizen», weiss er von seinen Erfahrungen als Jurtenbauer und dem Austausch mit Bekannten, die ebenfalls in Jurten leben. Das Raumklima sei in Jurten dank natürlichen Baumaterialien, wie Holz oder der Isolation aus Schafwolle normalerweise angenehm. «Bei Minustemperaturen im Winter musste ich aber nachts mehrmals aufstehen und Holz im Ofen nachlegen. Das Leben in einer Jurte ist intensiv, aber auch anstrengend.»
Verkauf oder Tausch der Jurte geplant
Das ist mitunter ein Grund, warum Rettenmund wieder eine Festanstellung im mittleren Management in der Deutschschweiz und eine kleine Wohnung sucht. «Ich möchte im Alter nicht vom Staat abhängig sein. Ich will wieder ein regelmässiges Einkommen und fürs Alter sparen.» Die «romantische» Wohnform in der Jurte, die sich für ihn aus der Not ergeben hat, möchte er wieder aufgeben. Nicht aber die vielen positiven Erfahrungen, die er aus dieser temporären Wohnsituation mitnimmt und ihn gestärkt und geerdet haben. «Mehr als eine kleine Einzimmerwohnung mit Küche, Heizung und fliessendem Wasser brauche ich nicht mehr. Meine letzten Jahre und das Leben in der Jurte haben mich gelehrt, mich auf wenig zu beschränken.»
Seine Jurte auf dem Campingplatz würde er gegebenenfalls verkaufen. Er ist sich aber bewusst, dass die Wohnungssuche in der aktuell angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt und nach seinem coronabedingten Konkurs schwierig ist, hofft aber auf eine Chance. Denkbar wäre für ihn alternativ auch ein längerfristiger Wohnungs-/Jurtentausch mit Personen, die wie er vorübergehend in einer Jurte leben und diesen Lebensstil über einen längeren Zeitraum ausprobieren und geniessen möchten. Sascha Rettenmund: «Ich kann das Wohnen in einer Jurte nur empfehlen. Diese reduzierte Wohnform ist eine wertvolle Lebenserfahrung.»