«Ich bin einfach der Sepp», sagt der 83-jährige Sepp Zurfluh lachend, als er Blick an der Bergstation der kleinen Luftseilbahn Stäfeli-Ebnet mit seinem Jeep abholt. Die Fahrt verbindet der Älpler mit einem Abstecher in die nahe Käserei, wo auch die Milch der 20 Kühe auf der Alp Hobiel verarbeitet wird. Er lädt neben den Blick-Mitarbeitenden samt Filmequipment Lebensmittel in seinen Jeep. Etwas mehr als fünf Minuten dauert die holprige Autofahrt zur Alp Hobiel zuhinterst im Engelberger Tal, auf der westlichen Seite des Surenenpass auf dem Urner Gemeindegebiet Attinghausen. Zu Fuss sind das rund 15 Minuten. Diesen Fussmarsch hat der junge Sepp früher täglich mit den Milchkannen unter die Füsse genommen, um die frische Milch von der Alp zur Käserei zu bringen.
Lernen von erfahrenen Älpler
Für Sepp ist es der 68. Alpsommer auf Hobiel. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Seit seiner Kindheit verbringt der elffache Grossvater jeden Sommer auf der Alp, die früher seinem Onkel gehörte. Sepp Zurfluh konnte sie 1970 übernehmen. «Mit 16 war ich das erste Mal mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester allein auf der Alp verantwortlich. Für mich war das Alpleben Neuland. 1957 war die Hütte klein, ohne jeglichen Komfort und auch der Stall war alt. So dürfte man heute Tiere nicht mehr unterbringen», sagt Sepp. Von den anderen Älplern, die auf dem Land der Urner Kooperation ihre Alphütten haben, schaute der junge Sepp viel ab, fragte nach und lernte durch Erfahrung.
Ausbau mit viel Eigenleistung
Es hat sich viel getan in den Jahren auf der Alp Hobiel, wie sich bei Ankunft vor Ort zeigt. Inzwischen werden zwei Gebäude von Zurfluhs bewohnt und die dritte Generation hilft aktiv im Alpbetrieb mit. Ein Alpbeizli und Übernachtungsmöglichkeiten sind ein wichtiges zweites Standbein für die Familien geworden. Fast alles hat Sepp mit seinen Kindern in Eigenregie einfach, aber gemütlich ausgebaut und erweitert. Mit der Fürenalp-Bahn habe 1979 der Tourismus hier oben etwas angezogen. Wanderer seien vermehrt zur Alp gewandert und haben um ein Glas Milch bei Zurfluhs angefragt. Sepp Zurfluh: «So haben wir mit den nötigen Bewilligungen unser Angebot mit einfacher Verpflegung ausgebaut und können etwas dazuverdienen.» Massentourismus streben Zurfluhs nicht an, freuen sich aber, wenn sie Verständnis für Landwirtschaft und Natur vermitteln können. Für einen Schwatz mit den Gästen nehmen sich darum alle Zurfluhs, wenn immer möglich, gern etwas Zeit.
Mithilfe der Ehefrau und Nachkommen
Bei bestem Wetter sind die Schattenplätze an diesem Sommertag gut besucht. Immer mehr Gäste verpflegen sich vor der Hütte und geniessen den Ausblick. «Ich hatte Glück, dass ich mit meiner Ehefrau Theres eine Frau gefunden habe, die bereit war, das Leben auf der Alp mitzutragen», sagt Sepp. Gemeinsam hat das Ehepaar fünf Kinder grossgezogen. Der älteste Sohn Ruedi Zurfluh (51) war gerade zwei Monate alt, als er den ersten Alpsommer erlebte. Seit 2006 hat der gelernte Landwirt mit Meisterdiplom, der die Wintermonate als Mitarbeiter eines landwirtschaftlichen Treuhandbüros das Geld für seine Familie verdient, den Alpbetrieb Hobiel mit Ehefrau Sibylle (46) und den vier Kindern übernommen.
Wetterbedingungen erfordern Flexibilität
Sibylle und Schwiegermutter Theres Zurfluh stehen in der Küche des alten Alpgebäudes, wo Sepp und Theres wohnen. Sie kochen sowohl für die Familien als auch für die Gäste. «Da sind wir noch ziemlich klassisch. Wir sind hauptsächlich für das Kochen und die Hausarbeit zuständig», sagt Sibylle lachend, während sie den frischen Salat wäscht. Die Küche im alten Alphaus ist geräumig und grenzt ans Schlafzimmer von Sepp und Theres. Gekocht wird auf dem Gasherd oder auf dem alten Holzofenherd. Für die Familie gibt es heute Suppe, «Gschwellti» mit Sauerrahmsauce, Krautstiel von der Alp sowie Salat aus eigenem Anbau. Der Tisch in der Stube, wo Familienbilder hängen, ist gedeckt. Nur Grossvater Sepp und Enkelin Stefanie (14) haben Zeit zum Mittagessen. «Wir wissen nie, wie viel Gäste kommen und müssen flexibel sein. Das kommt immer auf das Wetter an», sagt Sibylle.
Pendeln zwischen zwei Haushalten
Die vierfache Mutter stammt ebenfalls aus einer Bauernfamilie. Das Alpleben war aber auch für sie Neuland. Jedes Jahr im Juni heisst es für sie packen und mit Ehemann Ruedi und den vier Kindern ausziehen aus der Wohnung im Bauernhaus in Attinghausen, das sie mit den Schwiegereltern teilt. «Ich bin eine Chaotin. Jedes Jahr rennt mir die Zeit für die Vorbereitungen davon, bis wir auf die Alp ziehen», sagt sie. Am schönsten seien die vier Tage zum Einrichten der Hütte für die beiden Alpfamilien, bevor der Gästebetrieb auf der Alp losgeht. «Das ist wie Ferien für uns hier oben.» Inzwischen sei für sie als Mutter vieles einfacher geworden, weil die älteren beiden Töchter schon berufstätig sind und in Attinghausen bleiben. Sie kommen aber an den Wochenenden auf die Alp und helfen mit. Unter der Woche können sie auch einmal auf die beiden jüngeren Geschwister schauen, wenn Sibylle auf der Alp arbeitet. «Nach den Sommerferien bin ich aber wieder vermehrt bei den Kindern unten in Attinghausen und weniger auf der Alp», sagt Sibylle. Für die Urner Bauernkinder wären neun Wochen Sommerferien mit einem Dispens möglich. Der Weg auf die Alp ist nicht täglich machbar, trotz Sonderbewilligung der Älpler für Autofahrten bis zur Seilbahn. «Man muss sich schon organisieren hier oben und kann nicht einfach schnell irgendwohin oder täglich einkaufen», sagt Sibylle.
Mithilfe der Kinder und Freizeitmöglichkeiten
Sibylle und Ruedi Zurfluhs Tochter Stefanie (14) besucht das Gymnasium. Sie hat dieses Jahr nicht Gebrauch gemacht von der Dispensation. «Ich müsste verpassten Schulstoff nachholen», sagt Stefanie. Sie ist aktuell als einziges Kind auf der Alp. Der jüngere Bruder ist in einem Jungwachlager. Ist es als Teenager nicht schwierig, hoch oben abgeschieden in den Bergen zu wohnen? Nicht für Stefanie. Cousinen oder Freundinnen sind häufig auf der Alp. Zudem sind neben den 20 Kühen, die sommern, Hühner, Hund Leila, die junge Katze Luna und Hasen auf der Alp. Ein Paradies für natur- und tierliebende Kinder, wie sich auch bei den Gästen mit Kindern an diesem Sommertag zeigt. Stefanie übernimmt auch selbständig Arbeiten. So führt sie mit Papa Ruedi am Nachmittag die Kühe auf die Mittagsweide, hilft unaufgefordert beim Abwasch in der Küche und bedient Gäste. «Unsere Kinder sind vielleicht etwas früher selbständig und bereit, einen Teil Verantwortung zu übernehmen, als Kinder aus der Stadt», meint Mutter Sibylle.
Mehr Privatsphäre durch Ausbau des Geräteschuppens
Wo früher ein Geräteschuppen auf der Alp war, ist seit einigen Jahren ein Teil zu einer kleinen Wohnung für die Familie von Ruedi und Sibylle ausgebaut worden. «So haben wir doch alle etwas Privatsphäre», sagt Sibylle. In der eigenen modernen offenen Küche mit Esstisch produziert sie Glace oder bereitet mit Schwiegermutter Theres Urner Pastete zu. Das Ehepaar Sibylle und Ruedi haben ein eigenes Schlafzimmer. Ihre vier Kinder teilen sich ein Zimmer mit zwei Etagenbetten. Hier kann sich Leseratte Stefanie auch zurückziehen und in Ruhe in einem Buch lesen. Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten seien schon wichtig, sind sich alle auf der Alp einig, auch wenn die drei Generationen als eingespieltes Team gut harmonieren.
Neue Technologien erleichtern das Alpleben
«Eine kurze Pause für ein Nickerchen gönnen sich alle im Laufe des Tages», sagt Sibylle. Die Tage sind lang und die Arbeiten oft streng. Für Ruedi ist jeweils um fünf Uhr Tagwache und er melkt die Kühe im Stall, bevor er sie auf die saftigen Weiden führt. Sepp kann die Arbeit noch immer nicht lassen. Er mistet jeden Morgen früh den Stall aus und hilft oft mehr mit, als ihm guttut. Vieles sei dank moderner Technologie einfacher geworden, findet Sepp. So beispielsweise seit Strom auf der Alp ist und es ein Telefon gibt. «Seither können wir beim Tierarzt anrufen und müssen ihn nicht erst im Dorf informieren. So kann er falls nötig schneller hochkommen als früher.» Für Sibylle ist ausserdem das Handy ein Segen. Vor allem, weil sie nicht immer bei den Kindern ist oder um im Gruppenchat Helfende für die Alp zu finden. So zum Beispiel für den rund zweistündigen Alpaufzug. Augenzwinkernd sagt Sibylle: «Für den Alpaufzug melden sich manchmal mehr Verwandten und Freunde, als wir Kühe haben.» Kein Wunder, wenn man Ruedi zuhört, wie er vom nächtlichen Sternenhimmel ohne Lichtverschmutzung, von seinen Tieren und der Ruhe hoch in den Bergen schwärmt. Sorgen bereiten ihm und Sepp jedoch die Klimaveränderungen, die sich auch in den Bergen zunehmend bemerkbar machen. Immer öfter löst sich Geröll am Berghang und verschüttet saftiges Weideland. Mit Helfern hat Ruedi die letzten Tage wieder Unmengen von Geröll in mühsamer Arbeit am Hang entfernt, damit die Kühe dort wieder grasen können.
Abendliche Ruhe und Einzug neuer Gäste
Während es langsam ruhiger wird auf Hobiel und die Wanderer talwärts gehen, beziehen neue Gäste, begleitet von Sibylle, ihr Zimmer, wo sie nächtigen werden. Sibylle und Theres werden am Morgen zeitig wieder in der Küche stehen und ein einfaches Bauernfrühstück richten. Bald werden die Kühe in den Stall getrieben und von Ruedi noch einmal gemolken. Dann ist auch für ihn Feierabend und Zeit für das Abendessen mit der Familie in der Hütte. Abendliche Ruhe wird bald bei Zurfluhs auf Hobiel einkehren.
Grossvaters Glück und Hoffnung
Sepp sitzt am Spätnachmittag noch im Schuppen und schleift die Sense. Der Grossvater sinniert dabei über sein Glück, dass mit Sohn Ruedi und Schwiegertochter Sibylle, sowie deren vier Kinder Alp Hobiel weiter im Familienbesitz bleibt und dass er mit Theres das Aufwachsen der Enkelkinder so eng verbunden miterleben dürfen.
Im September wird es für beide Älplerfamilien Zurfluhs mit den Kühen wieder talwärts ins Winterquartier nach Attinghausen gehen. Auch nach all den Jahren auf der Alp sagt Sepp Zurfluh: «Ich hoffe, dass ich das Glück habe, noch einige Sommer auf der Alp zu erleben.»