«Im Schulunterricht kommt die Astronomie meist zu kurz»
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Marco Suter (60):«Im Schulunterricht kommt die Astronomie meist zu kurz»

Besuch in der Bündner Sternwarte Mirasteilas
Den Sternen so nah

Im Bündner Bergdorf Falera überwachen zwei Amateurastronomen das Weltall, entdecken Asteroiden und blicken durch das grösste öffentlich zugängliche Teleskop der Schweiz. Zu Besuch in der Sternwarte Mirasteilas.
Publiziert: 31.12.2022 um 16:24 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2023 um 14:52 Uhr
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

«Das ist unsere Kathedrale», sagt José De Queiroz (68) und öffnet die Tür. Grauer Teppich, Betonwände. Ein Giebeldach aus Holz. Der Raum ist fast leer, bis auf vier Teleskope. Drei hoch und schlank, das vierte so mächtig wie ein ausgewachsener Bulle. Brennweite: neun Meter. Hier, mitten in den Bündner Bergen, steht das grösste öffentlich zugängliche Teleskop der Schweiz.

Marco Sutter (60) drückt auf einen Knopf neben der Tür. Er und De Queiroz leiten die Sternwarte Mirasteilas in Falera, wo sie den Orbit überwachen und Asteroiden entdecken. Etwas oberhalb des Dorfs steht die von aussen unscheinbare Hütte, gleich neben dem Kinderskilift. Bis in die Sternwarte hört man, wie die Pistenraupe mit lautem Piepen über den verschneiten Hang kriecht.

Die Leiter der Sternwarte Mirasteilas: Jose De Queiroz (links) und Marco Sutter.
Foto: STEFAN BOHRER

Surrend setzt sich die hölzerne Decke über unseren Köpfen in Bewegung, gibt Meter für Meter den Blick in den funkelnden Nachthimmel frei. Kalte Bergluft weht einem um die Ohren. Die Kathedrale der Sterngucker hat ein Schiebedach.

Der Orbit boomt

«Schau, dort ist der Jupiter», sagt Sutter und zeigt auf einen hellen Punkt. Die Betonwände blenden das malerische Alpenpanorama aus, das so manche Touristen nach Falera zieht – alles unwichtig, wenn man entdecken will, was darüber liegt. Diesen uralten, gigantischen Kosmos, von dem wir bloss ein winziges Teilchen sind.

Dieser Cirrusnebel im Sternbild Schwan ist der Rest einer Supernova, in der vor rund 8000 Jahren ein Sternenleben endete.
Foto: Sternwarte Mirasteilas

So wie wir an Neujahr über das vergangene Jahr nachdenken, bringt uns auch das All zum Reflektieren: Wer sind wir, und wozu? Was ist da draussen? Wir haben Kontinente entdeckt, Genome entschlüsselt. Vom All kennen wir gerade einmal fünf Prozent. Dort oben wartet eines der letzten kaum entdeckten Abenteuer.

Schon immer war es Ziel des Menschen, es zu erforschen, unsere schier unerträgliche Neugierde zu stillen. Doch noch nie so dringlich wie heute. Vergangenen Sommer lieferte das James-Webb-Teleskop unfassbar eindrückliche Bilder aus fernen Galaxien – eine technische Sensation. Trotz Wirtschaftskrise betrug das Nasa-Budget 2022 rund 24 Milliarden US-Dollar.

Mit China strebt neben Russland ein weiterer Akteur auf die Weltraumbühne, auch Europa ist dieses Mal ganz gut dabei. Private Milliardäre wie Elon Musk (51) besetzen möglichst viele Umlaufbahnen. Beim heutigen Rennen ums All gehts schon lange nicht mehr nur ums Prestige. Sondern darum, sich Ressourcen zu sichern.

Seit der Bronzezeit ist Falera Zentrum der Astronomie

In der Sternwarte Mirasteilas braucht die Weltraumforschung keine Milliarden. Eine Viertelmillion Franken kostete das bullige Spiegelteleskop trotzdem. De Queiroz schnappt sich das iPad von der Ladestation, öffnet eine Planetariums-App. Die Sternkarte.

3000 Sterne sehen wir mit blossem Auge.

100 Milliarden Galaxien gibt es im Orbit.

1 Lichtjahr bezeichnet die Distanz, die Licht in einem Jahr zurücklegt: 9,46 Billionen Kilometer.

Er tippt auf einen der Punkte. Sofort richtet sich das Auge des Bullen auf den fünften und grössten Planeten in unserem Sonnensystem. Elfmal so gross wie die Erde, rund 600 Millionen Kilometer von uns entfernt. Der Jupiter. Im Spiegelteleskop wächst der milchige Punkt zu einer Murmel, rot-weiss gestreift. «Das ist seine farbige Wolkendecke», erklärt De Queiroz das Muster des gigantischen Gasplaneten.

Seit 2006 steht die Sternwarte etwas oberhalb des Dorfes Falera, gleich neben dem Kinderskilift.
Foto: Sternwarte Mirasteilas

Für die Hotellerie kam er in den 70er-Jahren in das Bergdorf, heute führt er das Restaurant Encarna. In seinem Beruf hat er so häufig mit Menschen zu tun, dass er sich am Feierabend nach Stille sehnt. Er kaufte sich ein Fernglas, setzte sich auf den Balkon seines Restaurants. «Zuerst hielten mich die Leute für verrückt», sagt er und lacht. Sie nannten ihn Sterngucker. Auf Rätoromanisch: Mirasteilas.

«Unser Körper wird klein, der Geist ganz gross»

Um die Jahrtausendwende begann De Queiroz, das Teleskoptreffen zu organisieren. Schon bald pilgerten Astronomiebegeisterte aus ganz Europa nach Falera, um gemeinsam nach oben zu schauen und Neuigkeiten auszutauschen. Denn der Orbit ist nicht starr, sondern dynamisch. Ständig passiert etwas. Es folgte der Planetenweg in Falera, ein astronomischer Lehrpfad durch unser Sonnensystem. Mit Sponsoring und Unterstützung der Gemeinde errichtete die Stiftung Mirasteilas 2006 schliesslich die Sternwarte.

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Dass Falera heute ein Zentrum der Astronomie von internationaler Bedeutung ist, macht De Queiroz stolz. Denn schon vor 3000 Jahren spielte der Kosmos in dem Bergdorf eine wichtige Rolle. De Queiroz zeigt zum anderen Dorfende. «In der Bronzezeit errichteten die Menschen hier lange Steinreihen, um astronomische Events wie die Sommersonnenwende festzuhalten.» Noch heute stehen die sogenannten Megalithen im Parc La Mutta, der grössten astronomischen Kultstätte in der Schweiz.

Eine Galaxie kommt selten allein. Der Dreiecksnebel (Bild) gehört wie unsere Milchstrasse zur sogenannten Lokalen Gruppe – einer Gruppe aus rund 30 Galaxien.
Foto: Sternwarte Mirasteilas

Die Sternwarte ist De Queiroz’ zweites Zuhause geworden. Hier kann er runterfahren, über Dinge nachdenken, die im Alltag keinen Platz haben. «Konfrontiert mit diesem gigantischen Universum wird unser Körper ganz klein, der Geist ganz gross», sagt er mit leuchtenden Augen.

De Queiroz entdeckte drei Asteroiden

Ein gleissender Feuerball zerreisst die Dunkelheit. De Queiroz folgt ihm mit dem Finger, eine Sekunde, zwei, bis der Schweif erlischt. Auf seinem Computerbildschirm ist ein Meteor in die Erdatmosphäre eingedrungen, hat sich durch die Reibung so stark erhitzt, dass er verglühte. Eine Sternschnuppe. De Queiroz sitzt in seinem Kontrollraum gleich neben der Sterngucker-Kathedrale. Von dem kleinen Zimmer aus überwacht er für das amerikanische Minor Planet Center (MPC) den Weltraum.

Etwa 3500 Messungen hat De Queiroz bisher durchgeführt. Er beobachtet Asteroiden, die der Erde bei einer Kollision gefährlich werden könnten.
Foto: STEFAN BOHRER

Rund 900 Menschen haben weltweit die Bewilligung für das, was De Queiroz tut: Astrometrie, die Vermessung der Himmelskörper. Neben Meteoren behält er auch die viel grösseren Asteroiden im Auge, berechnet ihre Umlaufbahn, hält Unregelmässigkeiten fest. Denn eine Kollision mit der Erde wäre gefährlich. Vergangenes Jahr feuerte die Nasa in einem erfolgreichen Testlauf erstmals eine Sonde auf einen Asteroiden, um dessen Richtung zu ändern.

233943. Das ist die Zahl, die nach der Geburt von De Queiroz’ Tochter das wichtigste Ereignis in seinem Leben markiert. Hier in diesem Zimmer sass er, als 2009 eine namenlose Kartoffel über seinen Bildschirm schwirrte. «Eigentlich ist jeder Himmelskörper im All genau beschrieben», sagt De Queiroz, ist noch heute begeistert. Er hatte einen Asteroiden entdeckt. Nach der Nummerierung taufte er ihn Falera, entdeckte noch zwei weitere: Chur und Marcia, benannt nach seiner Tochter.

Eine Leidenschaft, die verbindet

Eine Wolke zieht über den Nachthimmel, verdeckt die rot-weisse Murmel. Sutter blickt vom Teleskop hoch. Im Schulungsraum im Untergeschoss führt er die Besuchergruppen in die Astronomie ein, erklärt ihnen, was wir von unserer Milchstrasse aus alles entdecken können. Zum Beispiel unsere Nachbargalaxie Andromeda. 2,5 Millionen Lichtjahre ist sie entfernt. Ihr Licht, das wir sehen, ist also 2,5 Millionen Jahre alt.

«Die Astronomie verbindet», sagt Sutter. Hier hat er viele Gleichgesinnte kennengelernt.
Foto: STEFAN BOHRER

Sutter wirft einen letzten Blick nach oben. Am Winterhimmel dominieren die Galaxien, im Sommer scheint die Milchstrasse geradezu aus den Bündner Bergen aufzusteigen. Auf der Skipiste, die in den Sommernächten eine normale Wiese ist, ragen bei den Teleskoptreffen Hunderte Teleskope in den Himmel. Rund 2500 Mitglieder zählt die Schweizerische Astronomische Gesellschaft, 32 regionale Gesellschaften und Vereine gehören ihr an. «Astronomie verbindet», sagt Sutter.

Wir wohnen in der Milchstrasse, einer relativ grossen Sternenstadt mit einigen hundert Milliarden Sternen, die sich um ein Schwarzes Loch dreht.
Foto: Sternwarte Mirasteilas

Er und De Queiroz haben in der Sternwarte viele Gleichgesinnte getroffen. Heute besteht das Team aus 30 freiwilligen Demonstratoren der Astronomischen Gesellschaft Graubünden. Ihre Begeisterung wollen sie an öffentlichen Führungen weitergeben. Sutter sagt: «Astronomie sollte zur Allgemeinbildung gehören.» Er drückt den Knopf. Surrend verschwindet das funkelnde Sternendach über seiner Kathedrale.

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