Etwas klappt nicht mit dem Video-Chat, den ich mit Daniel Süss vereinbart habe. «Bitte warten Sie darauf, dass der Host dieses Meeting startet», steht auf meinem Computerbildschirm. Ich warte. Und warte.
Es ist eine der ersten Lektionen, die einen die Bildtelefonie lehrt: geduldig zu sein. «Jetzt sollte es funktionieren», sagt Süss (57), Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Inzwischen kann ich seine Stimme hören. Dann poppt das Fenster für die Bildübertragung auf, wir haben Blickkontakt.
200 Millionen nutzen Zoom
Seitdem wir uns sozial isolieren müssen, boomen Video-Chats, Videokonferenzen und Co. Swisscom zum Beispiel verzeichnet seit Beginn der ausserordentlichen Lage 30 Prozent mehr Uploads. Zu diesem Bereich zählen neben Dokumenten, die versendet werden, auch die Streams aus den virtuellen Konferenzen.
Alle sprechen plötzlich von Zoom – einem Programm, das seit dem Ausbruch der Corona-Krise weltweit täglich mehr als 200 Millionen Menschen verwenden. Davor waren es zehn Millionen.
Sicherheitsexperten warnen zwar davor, dass die kalifornische Firma, die Zoom betreibt, keinen angemessenen Datenschutz garantiert. Im Schweizer Apple-Store steht die Zoom-App dennoch seit Wochen auf Platz eins, dicht gefolgt von vergleichbaren Gratis-Applikationen wie Microsoft Teams, Houseparty, Skype und Google Hangouts.
Warum das so ist, liegt auf der gründlich gewaschenen Hand. Als der Lockdown begann, zogen wir uns in die eigenen vier Wände zurück. Homeoffice war angesagt. Fast jede Form von Kommunikation mit Menschen, die in Fleisch und Blut vor uns stehen, verschwand von einem Tag auf den anderen. Ein Ersatz musste her.
Das Grosi kommt in Zugzwang
Die beste Freundin möchte jetzt plötzlich ihr Gesicht auf unserem Smartphone zeigen, statt anzurufen wie bisher. Grosseltern realisieren, dass sie ihre Enkelkinder nur zu Gesicht bekommen, wenn sie sich mit Video-Chats vertraut machen.
Büros führen Videokonferenzen durch – so heissen in diesem Fall Sitzungen ab drei Teilnehmenden. Meistens sind es mehr. Der Anblick des Gitternetzes mit all den zugeschalteten Köpfen aus dem Homeoffice gehört inzwischen zum Büroalltag wie früher die schlechte Luft im Sitzungszimmer.
Emotionaler Austausch ist wichtig
Videokonferenzen, sagt Medienpsychologe Süss, seien momentan für viele Menschen nicht nur nötig, um weiterhin arbeiten zu können, sondern auch eine Art Ersatz für die menschliche Nähe und den «emotionalen Austausch» im Büroalltag, die aufgrund der Krise wegfallen. Kurz: Es ist wichtig, dass wir jetzt andere Menschen sehen – auch wenn es nur auf dem Bildschirm ist.
Das klingt gut. Doch wir tun uns schwer mit dieser Art zu kommunizieren, die eben ganz anders ist als «normales» Reden. Man fällt sich ins Wort oder schweigt sich an – dazwischen gibt es wenig Abstufungen. Jemand ist immer verpixelt, bei jemandem unterbricht immer der Ton.
Sag Hallo zum sprechenden Kinn
Die Videoschaltungen sind voller Pleiten, Pech und Pannen. Da ist der «Stummfilm-Star», der in einer Videositzung eine Viertelstunde unbemerkt referiert, bis er realisiert, dass er das Mikrofon nicht aktiviert hat.
Der unfreiwillige Exhibitionist, der als einziger Teilnehmer einer Konferenz vergessen hat, die Kamera zu deaktivieren, und nicht merkt, dass ihn hundert Menschen schlecht gelaunt und unrasiert vor dem PC sitzen sehen. Schlimmstenfalls steht jemand auf und trägt «untenrum» nur Boxershorts, weil das auf dem Bildausschnitt normalerweise niemand sieht.
Oder der Zappelphilipp, der sich ständig bewegt. Freie Sicht auf die Nasenlöcher, heisst es dann. Manchmal spricht man auch minutenlang zu einem Kinn. In Corona-Zeiten ist diese Partie bei Männern oftmals gar nicht oder sonst frisch fürs Meeting rasiert. So viele Nahaufnahmen von Barthaaren und Rasurbrand wie jetzt werden wir hoffentlich nie mehr wieder zu Gesicht kriegen.
Oft sitzen wir in Video-Chats, sehen unser Gegenüber an und fragen uns: Geht es ihm gut? Ist er müde oder einfach nur schlecht gelaunt? Wir tun das viel häufiger als in Face-to-face-Situationen und bleiben meist relativ ratlos. Dann sehen wir uns selbst auf dem Bildschirm und denken: Sehe ich immer so ernst aus?
Sich beim Zuhören zuschauen
Bei einem Gespräch mit mehreren Personen, sagt Norina Peier (40), richten sich die Blicke auf den Redner. Diejenigen, die zuhören, stehen nicht unter Beobachtung. In Video-Calls sei das anders: Jeder Teilnehmer sieht neben dem Redner auch sich selbst und die anderen Teilnehmer auf dem Bildschirm. «Das hat den unangenehmen Effekt, dass wir uns beim Zuhören zuschauen können.»
Peier aus Zürich ist Psychologin mit Schauspielausbildung und bringt Menschen bei, wie sie bei Auftritten kompetent wirken können. Die allergrösste Herausforderung bei Video-Calls, sagt sie, sei der Umstand, dass jeder nur einen Teil seines Körpers zeigen könne.
Wenn man ungeduldig mit dem Bein wippe, kriege das in einem Video-Call niemand mit. Mimisches, wie das misstrauische Hochziehen der Augenbrauen, würde übersehen. Schuld sind die beschränkte Grösse des Videofensters, unvorteilhafte Beleuchtung und schlechte Bildqualität. «Fast alles, was ich in dieser Situation nonverbal mitteile, geht verloren.»
Das ist viel. Wissenschaftler gehen davon aus, dass 90 Prozent der Informationen, die ein Mensch in einem Gespräch aussendet, von nonverbaler Natur sind. Wir lesen die Mimik unseres Gesprächspartners, nehmen wahr, wie er sich bewegt, wie er riecht.
Nach Videokonferenzen sind wir kaputt
Ein Gespräch per Video, sagt Daniel Süss, brauche deshalb viel mehr Energie als ein Gespräch, bei dem man sich gegenübersitzt. Das liege daran, dass wir ständig aktiv versuchen, die Signale zu lesen, die wir sonst ganz beiläufig erfassen. Süss: «Eine kurze Interaktion wie der Händedruck gibt mir zum Beispiel ein Gefühl dafür, ob mir jemand sympathisch ist oder mich irritiert. In einem Online-Chat muss ich mich viel stärker anstrengen, um das herauszufinden.»
In einer Videosituation, sagt er, gewinne gezwungenermassen das gesprochene Wort an Bedeutung, und die Art, wie wir etwas sagen. Das kann Vorteile mit sich bringen. «Wer regelmässig so kommuniziert, kann lernen, sich präziser auszudrücken.»
So weit sind viele von uns noch nicht und benehmen sich unbedarft bis chaotisch. Videos von kiffenden Schülern in Video-Schulstunden, von halbnackten Männern, die ihren zurechtgemachten Freundinnen ins Meeting mit dem Chef platzen – die sozialen Medien sind voll davon. Selbst die Schweizer, das diskreteste Volk der Welt, haben selten so tief in ihre privaten Räumlichkeiten blicken lassen wie seit dem Beginn des Lockdowns.
Selektive Authentizität
So gänzlich dem Zufall überlässt dann aber doch niemand, was hinter seinem Kopf zu sehen ist, sagt Süss. Er sitzt vor einem Bücherregal – dem mit Abstand beliebtesten Hintergrund für Videokonferenzen – und einem Landschaftsgemälde. «Die unaufgeräumten Papierstapel auf meinem Schreibtisch sehen Sie jetzt nicht.»
Selektive Authentizität nennen Fachpersonen diese Art der Inszenierung: Was ich zeige, ist echt, aber ich zeige nicht alles. Das kommt an. Kommunikationsexperten raten deshalb davon ab, die künstlichen Hintergründe und Effekte zu verwenden, die viele Programme anbieten.
Auch wer den Hintergrund auf unscharf stellt oder ganz ausblendet, wirkt, als hätte er etwas zu verbergen. Bei einigen Programmen kann sich der User sogar virtuell an einen Strand versetzen lassen. Wellen rollen ans Ufer, Wind weht durch Palmen. Auf dem Kopf bewegt sich kein einziges Härchen.
Viele Schweizer würden ihre Kollegen normalerweise nur in einem beruflichen Umfeld sehen, sagt Süss. Da sei es doch nett, mal per Video einen Blick in die privaten Räumlichkeiten werfen zu dürfen. «Wenn im Hintergrund ein Bügelbrett steht, ist das nicht schlimm. Vielleicht wirkt es sogar sympathisch.»
Video-Calls könnten zwischenmenschliche Beziehungen aber auch gefährden, sagt Süss. Weil man sich nicht im selben Raum befinde und im schlimmsten Fall einfach ausloggen könne, sei Unfreundlichkeit risikoloser als im «echten Leben», wo man sich rein hypothetisch eine Ohrfeige einfangen könnte.
Die Gesprächssituation, der wir uns jetzt gezwungenermassen stellen, ersetzt keine physischen Kontakte. Man mag die Nähe, die sie kreiert, als wohltuend, amüsant oder verstörend empfinden. Ganz sicher ist sie – wie vieles in letzter Zeit – neu für uns.