Er wirkt locker, geht offen auf die Leute zu. Joseph Maria Bonnemain, seit kurzem Bischof von Chur, wirkt erfrischend anders, als man sich einen geistlichen Würdenträger vorstellt. Gerade ist er in Chur GR angekommen. Er ist im Schuss, er muss sich auf sein erstes Hochamt in der Kathedrale vorbereiten.
BLICK: Eine alte Tradition will, dass man dem Bischof zur Begrüssung den Ring küsst. Würde Sie das freuen?
Joseph Maria Bonnemain: Der Bischofsring ist wie der Ehering ein Zeichen für Treue – zu Gott, zum Bistum und zu den Menschen. Er ist kein Zeichen für Macht und Ehrerbietung. Küssen Sie deshalb besser Ihre Frau.
Wer sind Sie? Ein freundlicher Traditionalist oder ein aufgeschlossener Menschenfreund?
Ich hoffe, ein freundlicher Mensch, der die anderen Menschen liebt und ein Ohr hat für ihre Sorgen, sich mit ihnen freuen kann und die Hoffnung auf ein gutes Leben für alle teilt.
Sie haben bis vor kurzem im Opus-Dei-Zentrum in Zürich gewohnt. Wie fühlen Sie sich im prunkvollen bischöflichen Schloss in Chur?
Das ist nicht mein Stil. In meinem kleinen, nüchternen Büro im neuen Teil des Bischofssitzes fühle ich mich wohler als im barocken Prunk.
Sie feiern an Ostern Ihr erstes Hochamt als Bischof. Wie weh tut es, dass nur 50 Menschen der heiligen Messe beiwohnen dürfen?
Es ist sehr schade für alle, die nicht teilnehmen können. Aber wir teilen diesen Verzicht mit allen anderen, die in Beruf, Familie, Ausbildung jeden Tag ebenfalls auf viel verzichten müssen. Ich bin dankbar, dass zumindest 50 Menschen mitfeiern dürfen.
Gestern haben die Christen den Karfreitag gefeiert. An diesem Tag wurde Jesus die Corona, die Dornenkrone, aufgesetzt – doch an Ostern folgt seine Auferstehung. Wann werden wir von Corona erlöst?
Die definitive Erlösung wartet auf uns im Himmel. Wir werden auch in Zukunft mit Corona leben müssen, genauso wie mit anderen Krankheiten. Aber die Impfung wird das für uns alle stark erleichtern. Und mit alle meine ich auch alle. Nicht nur uns in der Schweiz, in Europa und den westlichen Ländern. Auch in Afrika, Asien und Lateinamerika. Corona ist auch ein Testfall unserer Bereitschaft zu Solidarität.
Was können wir heute noch von Ostern lernen?
Es ist das Fest der Auferstehung von Jesus Christus. Der Sieg des Lebens über den Tod. Diese Hoffnung ist der Kern unseres Glaubens. Deshalb ist Ostern unser wichtigstes Fest.
Sie gelten als Hoffnungsträger. Wie wollen Sie fortschrittliche und konservative Kräfte einen?
Auf Latein bedeutet Bischof «Pontifex», Brückenbauer. Ich will diese Brücke anbieten. Aber allein eine Brücke zu bauen, reicht noch nicht. Die Menschen von beiden Seiten müssen auch über sie gehen wollen. Dies in gegenseitigem Respekt, im Wissen darum, dass es verschiedene Mentalitäten und Ausdrucksweisen unseres katholischen Glaubens gibt. Die Zeiten von Verunglimpfungen, Respektlosigkeit und Unterstellungen müssen vorbei sein.
Sie haben auch unter den konservativen Bischöfen Wolfgang Haas und Vitus Huonder gearbeitet. Machen Sie sich Vorwürfe, dass Sie zu wenig bei ihnen interveniert haben?
Wissen Sie, dass ich nie interveniert habe? Selbstverständlich habe ich immer wieder meine Stimme erhoben, aber intern, nicht in der Öffentlichkeit. Ich war und bin davon überzeugt, auf diese Weise immer wieder auch Gutes erreicht zu haben. Aber ich war auch immer wieder kurz davor, den Bettel hinzuschmeissen.
Vor allem viele Frauen in Ihrer Diözese wünschen sich, dass Sie endlich als Priesterinnen arbeiten können. Wann wird das möglich sein?
Die Antwort der Päpste ist klar. Wir sind auch eine Weltkirche und können solch grundlegende Fragen nicht einfach allein für uns entscheiden. Aber die Kirche hat erkannt, dass sie sich auch im Hinblick auf die Rolle der Frauen weiterentwickeln muss. Wir sind in einem Prozess. Sind wir gespannt, wohin der Heilige Geist die Kirche noch führt.
Das Rollenbild der Frau hat sich in der Gesellschaft stark verändert. Die katholische Kirche hinkt hier stark hinterher. Wie wollen Sie Frauen mehr einbinden?
Frauen müssen auf allen Ebenen auch Leitungsfunktionen übernehmen können. In meinem Team in der Bistumsleitung möchte ich unbedingt auch Frauen haben.
Sie wollen wie Papst Franziskus auf Statussymbole verzichten. Wie wird Ihr künftiges Leben aussehen?
Ich werde vor allem ein wandernder Bischof sein, kein Bischof, der vor allem im Schloss residiert. Ich will die Menschen in allen Winkeln unseres Bistums besuchen und mit ihnen gemeinsam unterwegs sein.
Sie waren praktizierender Chirurg und arbeiteten bis vor kurzem als Spitalseelsorger im zürcherischen Spital Limmattal. Inwiefern hat Sie die Arbeit mit den Kranken verändert?
Die 36 Jahre im Spital haben mich total verändert. Die Kranken und Sterbenden, aber auch die Pflegenden und Ärzte haben mich gelehrt, dass es zuerst und vor allem immer um den konkreten Menschen geht, der mir begegnet. Alle Vorschriften und Regelwerke sind nur Hilfestellungen. Im Zentrum steht immer der konkrete Mensch. In ihm begegnet mir Gott selbst.
Warum gehören Sie dann aber noch Opus Dei an, diesem undurchsichtigen religiösen Zirkel, in dem ein strenges Regime herrscht?
Ich habe mich im Opus Dei immer frei gefühlt. Klar, früher hat das Opus Dei sicher auch Fehler begangen und war zu wenig transparent. Doch das ist lange vorbei. Sie müssen nicht Klischees von Dan Brown auf den Leim gehen. Das ist reine Fantasie dieses Schriftstellers. Die Kernbotschaft des Gründers von Opus Dei lautet, dass die Welt gut ist und dass wir den Glauben auf der Strasse leben können und dafür keine Klöster oder Kathedralen brauchen. Das fasziniert mich bis heute.
Sie haben früher wie viele Ordensmitglieder von Opus Dei einen Bussgürtel mit Stacheln getragen. Heute betreiben Sie – was für einen Bischof erstaunt – ein eisernes Krafttraining. Ist das eine Form der Selbstkasteiung?
(Lacht) Krafttraining ist keine Kasteiung, sondern macht Spass! Seit Monaten darf ich nicht mehr ins Fitnessstudio, das tut mir weh, nicht umgekehrt. Bussgürtel und ähnliche Praktiken waren in der Kirche während Jahrhunderten völlig normal. Aber sie passen nicht mehr in unsere Zeit. Es ist gut, dass wir ein positives Verhältnis zu unserem Leib gefunden haben.
Werden Sie weiterhin in einem privaten Klub in Zürich trainieren?
Ich muss schauen, wie ich das künftig mache. In Chur gibt es leider kein Kieser-Studio. Aber wer weiss …?
Sie sagten in der «Rundschau» von SRF, Jesus hätte das Kreuz nicht tragen können, wenn er als Zimmermann nicht gut trainiert gewesen wäre. Aber als Spitalseelsorger wissen Sie doch, dass Gesundheit ein Geschenk Gottes ist.
Gesundheit ist ein Geschenk – und ein Auftrag, den Kranken zu dienen. Sie ist Gabe, aber auch Aufgabe: Wir müssen für den Leib und dessen Gesundheit Sorge tragen. Niemand von uns ist immer gesund. Letztlich wartet auf uns alle der Tod. Und nach dem Tod die ewige Liebe Gottes.
Wenn wiederverheiratete Menschen zu Ihnen in die Messe kommen und die Kommunion wünschen. Erfüllen Sie Ihnen diesen Wunsch?
Ich will keine Pauschalurteile, schon gar keine Pauschalverurteilung. Ich schaue immer auf die konkreten Menschen und ihre Umstände. Ich weise niemanden ab, der ehrlichen Herzens die Kommunion empfangen möchte.
Und wenn sich ein gleichgeschlechtliches Paar von Ihnen segnen lassen will, werden Sie es tun? Die Glaubenskongregation im Vatikan hat das Verbot erst kürzlich wieder bekräftigt.
Wir haben die römischen Richtlinien auf der einen Seite und auf der anderen Seite den konkreten Menschen oder das konkrete Paar. Ich muss als Seelsorger eine Entscheidung treffen, die diesen Menschen gerecht wird.
Sie sind weiterhin gegen die Abschaffung des Zölibats. Ist das nicht ein alter Zopf?
Der Zölibat als Lebensform ist wertvoll. Menschen, die bewusst auf Familie verzichten, um ihr Leben Gott zu weihen und den Menschen zu dienen, wird es immer geben. Diese Lebensform gibt es in vielen Religionen, nicht nur im Christentum. Aber die Frage ist, ob jeder Priester zölibatär leben muss. Auch hier steht die Kirche in einem Entwicklungsprozess.
Sind Sie am Ende doch konservativer, als Sie erscheinen?
Ich bin konservativ, weil ich das Gute bewahren möchte. Und ich bin progressiv, weil neue Erfahrungen und Herausforderungen auch neue Wege verlangen.
Das Bistum Chur ist zerstritten. Sie sind Chirurg. Können Sie die Kirche flicken?
Das schafft nur Gott allein. Ich bin ein kleines Werkzeug Gottes und hoffe, meinen Beitrag leisten zu können.
Sie sind 72. Mit 75 Jahren müssten Sie traditionsgemäss dem Papst den Rücktritt anbieten. Was glauben Sie, bleiben Sie länger im Amt?
Der Papst hat mir «mindestens fünf Jahre» gegeben, also bis 77. Natürlich nur dann, wenn meine Kräfte dafür ausreichen.
Viel Zeit bleibt Ihnen trotzdem nicht, um etwas verändern zu können. Welches sind die dringendsten Aufgaben?
Das Wichtigste sind Versöhnung und Besinnung auf den Kern dessen, zu was wir als Kirche berufen sind: für die Menschen da zu sein, nicht dazu, uns um unsere eigene Achse zu drehen.
Die Kirchenaustritte in der Schweiz nehmen nicht ab. Warum ist das so?
Viele sind aus unterschiedlichsten Gründen enttäuscht. Manchmal kann ich das nachempfinden. Andere wurden in diese Kirche hineingeboren, haben aber nie eine engere Verbindung zu ihr aufbauen können und ziehen dann irgendwann den Schlussstrich. Generell nimmt die Bereitschaft ab, sich verbindlich zu einer Institution zu bekennen. Das spüren ja auch Vereine, Gewerkschaften, Parteien und Sportklubs. Aber auch Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, spüren die Sehnsucht im Herzen nach bedingungsloser Liebe, nach ewiger Treue, die Gott uns schenkt.
Wird es die katholische Kirche bei uns in 100 Jahren noch geben?
Sicher, das ist für mich gar keine Frage. Aber sie wird ziemlich sicher anders aussehen als heute.
Die vielen sexuellen Missbräuche schaden der Kirche. Was werden Sie dagegen unternehmen?
Bedingungslose Aufklärung, Täter müssen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden, Präventionsarbeit auf allen Ebenen. Wir müssen auch die Ausbildung der Seelsorgenden verändern. Sie müssen nicht nur gute Theologen sein, sondern Expertinnen und Experten der Menschlichkeit.
Hat ein Bischof eigentlich auch Hobbys?
Klar, Krafttraining. Und ich liebe die Sonne, den Strand und die Menschen in Sizilien. Deshalb verbringe ich dort seit vielen Jahren meine Ferien.
Zum Schluss noch eine indiskrete Frage. Bischof Huonder verdiente 90'000 Franken im Jahr. Und Sie?
Darum habe ich mich noch nicht gross gekümmert, es wird wohl gleich bleiben. Vorläufig brauche ich aber noch keinen Chauffeur.
Joseph Maria Bonnemain (72) kam in Barcelona (Spanien) als Sohn eines Schweizers und einer Spanierin zur Welt. Er studierte Medizin,Theologie und Philosophie. Zudem schloss er ein kirchenrechtliches Doktoratsstudium zum Dr. iur. can. ab. Er arbeitete als Chirurg, später auch als Spitalseelsorger. Bonnemain spricht Katalanisch, Spanisch, Französisch, Deutsch und Italienisch. Er gehört dem Opus Dei an und lebte bis vor kurzem mit Mitgliedern des konservativen Ordens in einer Wohngemeinschaft in Zürich. Am 15. Februar 2021 hat ihn Papst Franziskus zum römisch-katholischen Bischof des Bistums Chur ernannt.
Joseph Maria Bonnemain (72) kam in Barcelona (Spanien) als Sohn eines Schweizers und einer Spanierin zur Welt. Er studierte Medizin,Theologie und Philosophie. Zudem schloss er ein kirchenrechtliches Doktoratsstudium zum Dr. iur. can. ab. Er arbeitete als Chirurg, später auch als Spitalseelsorger. Bonnemain spricht Katalanisch, Spanisch, Französisch, Deutsch und Italienisch. Er gehört dem Opus Dei an und lebte bis vor kurzem mit Mitgliedern des konservativen Ordens in einer Wohngemeinschaft in Zürich. Am 15. Februar 2021 hat ihn Papst Franziskus zum römisch-katholischen Bischof des Bistums Chur ernannt.