Mikroben könnten uns retten
Kleine Zauberer in Gefahr

Die Klimakatastrophe macht selbst vor den Mikroben in unserer Erde nicht halt. Dabei helfen sie mit, uns alle zu retten – und liefern erst noch Erkenntnisse über das Leben auf anderen Planeten.
Publiziert: 04.06.2023 um 10:16 Uhr
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Aktualisiert: 05.06.2023 um 10:48 Uhr
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Mikroben bewältigen chemische Prozesse, die uns alle retten könnten.
Foto: Getty Images
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Stehen Sie auf solidem Boden? Also nicht im übertragenen Sinne, sondern physisch, mit Ihrem Körper? Ja? Eigentlich täuschen Sie sich. Nicht nur sind die Böden in unseren Gebäuden mit mikroskopisch kleinen Hohlräumen, Rissen, Rillen und Ritzen durchzogen, das Erdreich und die Felsen bis in tiefste Schichten sind es auch. Diese Hohlräume sind aber nicht etwa leer, sondern mit einer Unmenge an Leben gefüllt. Und dieses Leben ist, zumindest in den oberen Erdschichten, gemäss neusten Daten in Gefahr. Dabei sind es Mikroben, genauer Salpeterbakterien, die totes organisches Material so aufbereiten, dass Pflanzen sie als Mineralnährstoffe wieder aufnehmen können.

Extensive Landwirtschaft, Monokulturen, Klimawandel und Luftverschmutzung haben – das zeigen in den letzten Monaten verschiedene Studien und Artikel in Fachmagazinen wie «Science» – der Vielfalt der Mikroben stark zugesetzt. Dabei sind diverse, für das Leben auf unserem Planeten unerlässliche Mikroben noch ziemlich unbekannt und kaum erforscht. Nehmen wir etwa einen Forschungszweig, der erst seit rund 20 Jahren existiert, im wahrsten Sinne des Wortes tief bohrt – und tiefgründige Fragen zum Leben grundsätzlich aufwirft.

Abermilliarden von unbekannten Lebewesen unter unseren Füssen

Willkommen im faszinierenden Reich der Mikroben der tiefen Erdkruste. Mit tief sind Tausende von Metern gemeint: Noch fünf Kilometer unter dem Meeresspiegel fanden Forscher im Jahr 2018 bei Tiefseebohrungen lebende Mikroben – im Vergleich: Die Spitze des höchsten Bergs der Welt, des Mount Everest, liegt ca. 8,8 Kilometer über Meer. Aufgrund von Bohrungen an global verteilt über 40 Standorten schätzen Forscher die Biomasse dieser Mikroben auf das 200-Fache der Biomasse sämtlicher heute lebender Menschen auf diesem Planeten.

Geht man davon aus, dass das Gewicht einer Mikrobe bei ungefähr einem millionstel Mikrogramm oder einem Picogramm, mathematisch ausgeschrieben, bei (10-12 Gramm), liegt, so wird klar: Unter unseren Füssen, die vermeintlich auf so solidem Grund stehen, herrscht genetisches Rambazamba: Milliarden und Abermilliarden von Bakterien. 40 Milliarden Tonnen Mikroben, um genauer zu sein – das grösste Biom oder Ökosystem der Erde überhaupt. Und es ist äusserst divers, wie Gensequenzierungen zeigen: So sind einzelne Mikroben, die dank Tiefseebohrungen in Tausenden von Metern unter der Erdoberfläche oder dem Meeresboden gefunden wurden, genetisch sehr unterschiedlich. Um einen Vergleich zu ziehen: Menschen sind genetisch gesehen näher mit Pinien verwandt, als es einzelne dieser Mikroben zueinander sind.

Sie tun fast nichts – und sind trotzdem faszinierend

Ein Faultier ist im Vergleich zum Aktivitätslevel einer Mikrobe der tiefen Erdkruste geradezu hyperaktiv: Forscherinnen wie die Ozean-Mikrobiologin Karen Lloyd von der US-Universität Tennessee gehen davon aus, dass diverse der aufgefundenen Mikroben seit rund 5000 Jahren noch nicht einmal eine einzige Zellteilung vorgenommen haben. Und in Petrischalen, in denen die Forscher die seit einer ersten Bohrung von 2002 gewonnenen Mikroben zu züchten versuchen, tut sich nicht viel: Die Mikroben hängen sozusagen einfach ein bisschen rum. Es gibt aktuell kein theoretisches Limit, das die Lebenszeit eines Einzellers beschränkt. Lloyd sieht in der Langsamkeit dieser Mikroben enormes, wenn auch noch spekulatives Potenzial: etwa, wenn die Prozesse, die zur Langsamkeit des Stoffwechsels beitragen, auf Krebszellen angewendet werden könnten.

Um Aussagen über sie zu treffen, muss man also auf Vergleiche zurückgreifen und untersuchen, wie sich «schnellere» Mikroben der Oberfläche verhalten. Nimmt man Escherichia coli, ein Darmbakterium, das wir alle in uns tragen, legt es in eine Petrischale und lässt es dort ohne Nahrung über Monate oder Jahre hungern, stirbt zwar ein grosser Teil der Kultur. Der kleine Teil, der überlebt, ist im Vergleich zu «frischen» Coli-Bakterien dann aber stärker und abgehärteter. Dieser oft wiederholte Versuch, sagt Lloyd, sei der Beweis, «dass es einen evolutionären Vorteil gibt, aussergewöhnlich langsam zu sein». Und er bedeutet auch, dass die Mikroben der tiefen Erdschichten unglaublich zäh sind. Kaum kaputtbar – schliesslich leben sie seit Tausenden von Jahren mit verschwindend wenig Energie.

Um genau zu sein, wie der US-Geobiologe und -Geochemiker Doug LaRowe von der University of South California berechnet hat, leben diese Mikroben mit nur einem Zeptowatt pro Tag. Ein Zeptowatt (10-21W) Energie ist unglaublich wenig, ungefähr so viel, wie hypothetisch entstehen würde, wenn man einmal pro Tag die Masse eines Tausendstels eines Salzkorns einen Nanometer – die Dicke eines Schreibpapiers geteilt durch Hunderttausend – tief fallen lassen würde. Diese Erkenntnis allein ist ein wissenschaftlicher Durchbruch: Vorher ging man davon aus, dass viel mehr Energie vonnöten sei, um Leben zu ermöglichen. Aber nicht nur, dass solche Mikroben überhaupt leben, sondern auch wie sie leben, ist höchst interessant: Da weder Sonnenlicht noch Sauerstoff und nur sehr wenige Nährstoffe verfügbar sind, sind diese Mikroben auf chemische Prozesse angewiesen, die aufgrund der Elemente entstehen, die in den tiefen Erdschichten vorhanden sind, unter anderem Eisen, Phosphor oder Stickstoff.

Chemiestoffwechsel ohne Sauerstoff und Sonnenlicht

Einer dieser Mikroben kommt dabei eine Sonderrolle zu: Ähnlich wie Pflanzen, die Sonnenlicht via Photosynthese in Biomasse umwandeln und so sozusagen als Abfallprodukte Sauerstoff und Nährstoffe für ganze Nahrungsketten herstellen, sind sogenannte Chemolithoautotrophen ein Bindeglied für die Existenz eines grossen Teils des subterranen Bioms. Die Mikroben benützen hierfür Chemikalien («chemo») von Gesteinen («litho»), um so ihre eigene Nahrung herzustellen («autotroph»). Chemolithoautotrophen bringen dies mit einer ganzen Reihe von Chemikalien zustande – Schwefel, Mangan, Eisen, Stickstoff. Einige können ihre Nahrung sogar aus puren Elektronen herstellen. Nochmals ein Vergleich: Hätte man ein ungesichertes Stromkabel, könnten diese Mikroben also diesen Strom direkt einsaugen und ihn in andere Produkte verwandeln. Die Abfallprodukte solcher und anderer Mikroben sind wiederum Mineralien, zum Beispiel Pyrit oder Kalkstein. Mineralien, die wiederum die Nahrungsgrundlage für unzählige andere Mikroben bieten – und zudem unsere Welt geologisch reicher machen.

Solche Bodenmikroben haben aber nicht nur in Jahrmillionen mitgeholfen, unsere Welt so zu erschaffen, wie sie ist, sie weisen weit über die Erdkruste hinaus – bis ins Weltall. Wenn Mikroorganismen ohne Sonnenlicht und Sauerstoff und unter extremen Druckbedingungen entstehen, Tausende von Jahren überleben und gleichzeitig die geologischen Verhältnisse auf einem Planeten verändern können, bedeutet dies, dass die Rahmenbedingungen dafür, was es für die Suche nach Leben auf anderen Planeten benötigt, erweitert werden müssen. Tatsächlich hat ein Forschungsteam um die kanadische Astrophysikerin Sara Seager (51) bereits 2020 belegt, dass einige Mikroben in einem Umfeld überleben können, das fast ausschliesslich aus Wasserstoff besteht – was die Bandbreite der Planeten, auf denen Leben möglich sein könnte, stark erweitert. Die chemischen Prozesse, die Mikroben der tiefen Erdkruste bewerkstelligen, könnten die Möglichkeiten dieser Suche noch einmal stark vertiefen.

Dringender als die Suche nach Exoplaneten, auf denen Leben möglich sein könnte, ist es aber, die Existenz unserer eigenen Spezies zu sichern – bereits im Jahr 2027, hat die Weltwetterorganisation (WMO) letzte Woche bekannt gegeben, soll die globale Temperatur erstmals um 1,5 Grad Celsius höher sein als zu vorindustriellen Zeiten. Und hier kommen nun noch einmal die Forschung von Karen Lloyd und die Mikroben namens Chemolithoautotrophen ins Spiel: Lloyd konnte dank der jahrelangen Erforschung von Vulkanen und heissen Quellen beweisen, dass diese Mikroben im Boden gebundenes CO2 in karbonisierte Mineralien umwandeln. Sie fressen also sozusagen CO2 und verwandeln es in Gestein. Die Forschung ist zwar noch nicht so weit, aber: Eine Teillösung für unser massives CO2-Problem in unserer Atmosphäre, das das Leben auf der Oberfläche unseres Planeten zu grossen Teilen auszulöschen droht, könnte uns im wahrsten Sinne des Wortes zu Füssen liegen. Dazu müsste das CO2 aber irgendwie in die Tiefe befördert werden.

Umweltfreundliche(re)s Benzin, reduzierte Strahlung

Auch sonst leisten Mikroben fast schon Zauberdinge – für die nächsten zwei Beispiele tauchen wir aus den Tiefen der Erdkruste an die Oberfläche auf: Letztes Jahr haben US-Biokraftstoffexperten des Berkeley-Laboratoriums, einer Forschungsanstalt, die vom US-Departement für Energie finanziert wird, einen Durchbruch in der Kraftstoffherstellung geschafft. Sie haben Streptomyces-Mikroben, die ein Molekül produzieren, um Pilze abzuwehren, so gezüchtet, dass ein Biokraftstoff entsteht. Und der ist nicht nur nachhaltiger in der Herstellung als herkömmliches Benzin, sondern auch energiedichter – und er entlässt bei der Verbrennung erst noch viel weniger CO2 in die Atmosphäre. Auch beim Beseitigen radioaktiver Abfälle helfen Mikroben: Im Jahr 2021 hat die spanische Mikrobiologin Gemma Reguera an der Michigan State University in den USA den Prozess entschlüsselt, wie eine Mikroben-Spezies namens Geobacter strahlendes Uranium abbaut. Indem es Elektronen beifügt, löst es zum einen eine chemische Reaktion aus, von der sich das Bakterium ernährt, zum anderen mineralisiert es gleichzeitig so die Reste, baut sozusagen das Uranium so um, dass es die Umgebung nicht mehr verstrahlt.

Den Anwendungsmöglichkeiten der kleinen Helfer sind kaum Grenzen gesetzt. Wenn sie denn von Landwirtschaft und Luftverschmutzung nicht weiter geplagt werden. Es ist Zeit, die Mikroben zu schützen, wie das unzählige Forscherinnen und Forscher aufgrund mehrerer Studien seit diesem Jahr in verschiedenen Fachzeitschriften fordern.


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