Da liegt er, mitten auf dem Rasen in der Badi, umgeben von tobenden Kindern. Der grosse Mann auf dem Badetuch. Halb zusammengerollt, einen Arm unter dem Ohr ausgestreckt, die Beine etwas umständlich angewinkelt. Er schläft. Sehr tief. Einfach so.
Und das in der Schweiz, denke ich mir. Hier, in diesem Land, wo das Private gerne privat gehalten wird. Bloss nicht zu laut sein in der Öffentlichkeit. Gott bewahre, andere Fahrgäste können im Tram ein Telefongespräch mithören. Die Wäsche vor dem Haus immer ordentlich aufhängen, die Unterwäsche vielleicht nicht zuvorderst. Im öffentlichen Raum einfach Zurückhaltung bitte.
Und wenn man schläft, dann unauffällig. Angelehnt an die Scheibe im Zug. Sitzend. Damit es aussieht, als würde man einfach nur dasitzen. Normal halt.
Der Mann in der Badi schläft weiter. Friedlich. Unschuldig. Ausgestreckt auf dem Boden.
Vertrauensbeweis in die Mitmenschen
Da stellen sich einem noch mehr Fragen: Was für ein Vertrauen muss der haben, dass er einfach wegdämmert? Was, wenn ihn jemand ausraubt, sein Geld klaut, sein Handy, seine Badelatschen?
Aber schön gibt es noch Leute, deren Misstrauen ihren Mitmenschen gegenüber sich in Grenzen hält. Es soll ja auch Leute geben, die in der Badi ihren Rucksack einfach mit einem Tüechli abdecken, bevor sie ins Wasser gehen.
Er schläft weiter.
Vielleicht feiert er, ganz still, etwas verspätet den amerikanischen «Schlaf in der Öffentlichkeit»-Tag. Dieser ist jeweils am 28. Februar. Er soll darauf aufmerksam machen, wie wichtig – weil gesund – Schlaf für uns ist.
Öffentliches Schlafen – von der Regierung empfohlen
In Japan sei chronischer Schlafmangel gar ein nationales Problem, sagte der Professor und Schlafexperte Kazuo Mishima dem Magazin «Der Spiegel». Und so fördert die Regierung «Inemuri», übersetzt etwa «anwesend sein und schlafen», eine explizit auch öffentliche Form eines oberflächlichen Kurzschlafs. Gut praktizierbar in öffentlichen Verkehrsmitteln wie der U-Bahn.
Dank Power Naps wie dem «Inemuri» soll man danach wieder fitter sein, besser gelaunt und weniger gestresst. Zudem hilft der Kurzschlaf dem Herz-Kreislauf-System, sagt die Wissenschaft.
Unser Mann in der Badi scheint aber tiefer – und vor allem länger – zu schlafen als die empfohlenen 20 Minuten für den Power Nap.
Hat er sich Gedanken darüber gemacht, öffentlich zu schlafen, bevor er eingeschlafen ist?
Es gibt ja Leute, die gestalten damit ihr Berufsleben. Etwa der preisgekrönte Künstler Virgile Novarina. In seinen Schlaf-Performances «En somme» schläft der Franzose vor Publikum in Galerien, Schaufenstern und Museen. Er möchte die Zuschauenden dazu anregen, über ihren eigenen Schlaf nachzudenken.
Er liegt noch immer da. Der Mann in der Badi. Regt er auch andere zu Schlafgedanken an?
In mir löst er nebst Bewunderung etwas Unwohlsein aus.
Schnarcht er?
Nicht zu fest hinschauen und -hören. Zu intim, dieser Moment. Aber ich würde es schon gerne wissen. Macht er auch andere Geräusche? Hat er keine Angst, dass er das tun könnte?
Das nennt sich dann wohl die tiefenwirksamste Stufe der Body Positivity. Egal, was mein Körper macht: Während ich schlafe, es ist okay.
Er schläft noch immer. Wahrscheinlich wird ihn erst die Glocke, die den Badi-Schluss einläutet, wecken. Vielleicht schaue ich dann nochmals rüber.