Ferien, Hobbys, Job: Das sind normalerweise Dinge, die ich bei einem Coiffeurbesuch bespreche. Typische Smalltalk-Themen eben. Aber nicht heute. Ich sitze in einem sehr bequemen Sessel – und hülle mich in Schweigen. Auch Salonleiterin Esra Kaymak, die mir die Haare schneidet, bleibt still. Nur das Schnippeln der Schere und Trams, die draussen vorbeirattern, durchbrechen die Stille.
Seit Juni bietet der Salon Drycut am Zürcher Limmatplatz sogenannte Silent Cuts an, ebenso wie an den Standorten Bern und Winterthur ZH. Termine, bei denen man ruhig bleiben darf. Auf der Website kann man die Option ankreuzen: «Nach der Beratung und Besprechung des Schnitts geniesse ich meinen Schnitt heute gerne in Ruhe und verzichte auf Smalltalk.»
Das Angebot komme gut an, sagt Geschäftsführer Stefan Keller. Und stellt klar: «Wir wollen keine Distanz zwischen Menschen schaffen, sondern auf die Bedürfnisse unserer Kunden eingehen.» Etwa jeder Zehnte buche bereits einen Haarschnitt ohne Smalltalk.
Im Ausland verbreitet
Hierzulande ist der Trend vergleichsweise neu, in England hat er bereits seit 2015 seine Fans, als die Bauhaus-Salons aus Cardiff das Konzept des Quiet Chair einführten, des stillen Stuhls. Auch in Deutschland ist das Angebot beliebt. Den Anfang machten Berliner Salons, mittlerweile gibt es im ganzen Land Coiffeure, die auf schweigen und schneiden setzen.
Als ich das Angebot sehe, denke ich daran, aus Höflichkeit auf den Silent Cut zu verzichten – obwohl ich eigentlich Lust darauf hätte. Nach getaner Arbeit sagt Esra Kaymak, es gebe durchaus Kundinnen und Kunden, die den stillen Stuhl nicht wählen, aber während des Termins ihr Handy zücken. «Das ist für mich ein Zeichen, dass sie doch keine Lust auf Smalltalk haben.» Es sei ihre Aufgabe, solche Signale wahrzunehmen. Auch geschlossene Augen oder einsilbige Antworten interpretiert sie so.
Aber auch das Gegenteil komme vor: Kundinnen und Kunden, die den Silent Cut gewählt haben, fangen während des Termins doch an zu plaudern.
Gehört reden nicht auch zu ihrem Berufsprofil? Nicht unbedingt, meint Kaymak. «Aber klar, völlig introvertiert kannst du nicht sein.» Vor allem die Stammkundschaft schätze es, Gespräche mit ihr zu führen. Dann gehe es häufig sogar um sehr private Dinge wie Beziehungen oder Kinder. «Die sagen dann, dass der Silent Cut gar nichts für sie wäre», sagt die Coiffeuse. Die zehn Prozent Befürworter seien völlig durchmischt: Von Studierenden bis zu Geschäftsleuten sei alles dabei.
Smalltalk ist out
Digital Detox, Slow Life: Es gibt einen allgemeinen Trend hin zu mehr Ruhe, zu «weniger ist mehr» in der Kommunikation. Das Phänomen Silent Cut passe gut dazu, findet Juliane Schröter, Sprachwissenschaftlerin an der Universität Genf. Sie vermutet, dass es heute vor allem an den Handys liegt, dass wir weniger Smalltalk führen – dafür aber mehr «Smallwrite» praktizieren. «Anstatt zu sprechen, schreiben wir einander oft Nachrichten, um den Kontakt zu pflegen.»
Smalltalk habe zu Unrecht eine schlechte Reputation. «Er wirkt belanglos, ist aber nicht zweckfrei», sagt die Sprachwissenschaftlerin. Unverbindliches Plaudern eigne sich etwa dafür, neue Menschen kennenzulernen oder lockere Beziehungen aufrechtzuerhalten. Wie eben die zur Coiffeuse.
Anruf bei Bernadette Ottiger. Auch sie bietet in ihrem Salon Beni’s Barber in Ruswil LU seit der Eröffnung 2019 Silent Cuts an. «Ich weiss, dass viele Leute Smalltalk nicht mögen», sagt sie. Mütter und Geschäftsleute, die im Alltag viel um die Ohren hätten, nutzten diese Option oft. «Sie sind froh, wenn sie Zeit für sich haben und ohne schlechtes Gewissen schweigen können.»
Silent Cuts werden in Ottigers Salon hin und wieder gebucht – wie häufig, kann sie nicht beziffern, tendenziell aber mehr von Männern und Menschen unter 50. Obwohl das Angebot nur spärlich genutzt wird, hat Ottiger viel positives Feedback erfahren.
Auch die Hairstylistin profitiert vom stillen Haareschneiden: «Den ganzen Tag reden kann anstrengend sein.» Sie ist auch deshalb dafür, weil Gesprächspausen durch das Angebot nicht mehr als unangenehm wahrgenommen werden. Esra Kaymak bestätigt, dass viel reden kräftezehrend sein kann: «Für mich fühlt sich der Silent Cut ein wenig an wie Meditation.» Sie konzentriere sich komplett auf den Schnitt, ohne über Gesprächsthemen nachdenken zu müssen.
Den ganzen Tag schweigen möchte sie aber nicht. Kaymak: «Ich mag Smalltalk. Vor allem, um Neukunden kennenzulernen.» Themen, die sie zu vermeiden sucht, sind Politik und Religion: «Da muss man vorsichtig sein.»
Bei meinem Termin geht es weder um Politik noch Religion, noch um Belanglosigkeiten. Ich geniesse es, den Kopf abzuschalten und meinen Gedanken nachzuhängen. Dem Smalltalk ganz abschwören will ich aber nicht. Je nach Redebedürfnis werde ich den Silent Cut wählen – oder es bleiben lassen.
Manchmal macht es eben auch Spass, über Ferien, Hobbys oder den Job zu plaudern.