In der Schweiz stirbt alle zwei Wochen eine Person infolge häuslicher Gewalt. In über 70 Prozent der Fälle ist die getötete Person weiblich, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik belegen. Im laufenden Jahr sind bisher zwölf Frauen von ihrem Partner oder einem männlichen Familienmitglied getötet worden.
Die Aktivistinnen vom Telefon gegen Gewalt (TGG) haben eine klare Haltung zu diesem Thema. «Wir kritisieren das patriarchale System und sind der Meinung, dass es sich nicht um Einzelschicksale, sondern um ein strukturelles Problem handelt», sagt Lea. «Mich macht es hässig, dass vielen Frauen nicht geglaubt wird, wenn sie Gewalt erlebt haben.»
Lea sitzt neben Nina, Tatjana und Lucia im Innenhof des Frauenzentrums Fraum in Zürich. Sie haben zusammen mit acht weiteren Aktivistinnen im Juni vergangenen Jahres eine Hotline eingerichtet, als die Fälle von häuslicher Gewalt während der Pandemie zunahmen. «Unser Angebot richtet sich in erster Linie an Flinta-Personen, die körperliche, psychische, sexualisierte, verbale, staatliche oder rassistische Gewalt erlebt haben», sagt Lea. Die Abkürzung Flinta steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, Trans- und Agender-Menschen.
«Wir wirken vernetzend und unterstützen die Betroffenen»
Zum Schutz der Frauen wollen sie nicht im Detail über die Fälle sprechen. «Die Betroffenen rufen uns in den unterschiedlichsten Situationen an», sagt Lea. «Manche haben sexualisierte Gewalt im Ausgang erlebt und andere benötigen mitten in der Nacht jemanden zum Reden, wenn ihre Bezugsperson keine Zeit hat.» Häufig bräuchten die Frauen Informationen zu Beratungsstellen. «Wir wirken vernetzend und unterstützen die Betroffenen dabei, die passende Stelle zu finden», sagt Tatjana.
Die Personen würden immer selbst entscheiden, wie sie vorgehen wollten. «Wir hören ihnen zu und informieren sie über mögliche weitere Schritte. Wir unternehmen aber nichts, sofern die Betroffenen es nicht ausdrücklich möchten», sagt Nina. «Wir begegnen den Menschen auf Augenhöhe und anerkennen, dass es viel Kraft braucht, um anzurufen und von einem Gewalterlebnis zu erzählen.»
Die Hotline ist jeweils von Freitagabend bis Montagmorgen durchgehend erreichbar. Daneben arbeiten oder studieren die Aktivistinnen, deshalb können sie das Telefon unter der Woche nicht besetzen. Manche bringen Erfahrung in Psychologie, Rechtswissenschaft oder Dolmetschen mit, andere kommen aus der sozialen Arbeit. Mit der Erreichbarkeit am Wochenende decken die Aktivistinnen eine Zeit ab, zu der offizielle Beratungsstellen meist nicht verfügbar sind.
Zu wenig Fachkompetenz?
Das TGG tauscht sich mit offiziellen Institutionen aus. Doris Binda (54) vom Leitungsteam des Frauen-Nottelefons in Winterthur ZH spricht sich grundsätzlich für die Hotline der Aktivistinnen aus. «Da es im Moment kein nationales Angebot gibt, begrüssen wir dieses Engagement», sagt sie zu Blick. Sie hat aber auch Bedenken: «Für eine erfolgreiche Krisenintervention braucht es Fachkompetenz. Man muss wissen, wie eine Frau am Telefon zu beruhigen ist und wie man ihre Situation abschätzen kann – auch wenn sie sich nicht in einer Notfallsituation befindet.»
Es gibt noch keine nationale Hotline für Opfer von Gewalt, die rund um die Uhr erreichbar ist. 2017 hat sich der Bundesrat mit dem Beitritt zur Istanbul-Konvention – einem europäischen Übereinkommen zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt – dazu verpflichtet, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu reduzieren. Im Juni 2022 hat er einen Aktionsplan mit konkreten Massnahmen verabschiedet, der in den kommenden Jahren umgesetzt werden soll. Dieser beinhaltet unter anderem eine zentrale Telefonnummer für Opfer von Gewaltstraftaten.
Es gibt noch keine nationale Hotline für Opfer von Gewalt, die rund um die Uhr erreichbar ist. 2017 hat sich der Bundesrat mit dem Beitritt zur Istanbul-Konvention – einem europäischen Übereinkommen zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt – dazu verpflichtet, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu reduzieren. Im Juni 2022 hat er einen Aktionsplan mit konkreten Massnahmen verabschiedet, der in den kommenden Jahren umgesetzt werden soll. Dieser beinhaltet unter anderem eine zentrale Telefonnummer für Opfer von Gewaltstraftaten.
Pia Allemann (55), Co-Geschäftsleiterin bei der Beratungsstelle für Frauen (BIF), sieht es ähnlich. «Die Einschätzung einer Gefährdungssituation ist schwierig, vor allem am Telefon und insbesondere für Leute, die nicht täglich damit zu tun haben», sagt sie. Zudem sei der Schutz von Frauen primär die Aufgabe des Staates, die nicht von Laien übernommen werden sollte.
Die Aktivistinnen betonen, dass sie keine Beratungsstelle seien, sondern eine niederschwellige Ergänzung zu den bestehenden Angeboten. «Wir sehen uns als erste Anlaufstelle, die leicht zugänglich ist», sagt Nina. «Manchmal rufen Personen an, die noch nicht dazu bereit sind, sich an eine offizielle Stelle zu wenden.» Die Hotline sei nicht die erste Nummer, die man in einem Notfall wähle. «Ein grosser Teil unserer Arbeit ist zuhören und der Person Rückhalt bieten», sagt Lea.
Von Spanisch bis Kurdisch
Ihr Engagement sei auch deshalb wichtig, weil Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus staatliche oder juristische Wege teils komplett verwehrt würden. «Gewisse Gewalterfahrungen werden nicht als gleichwertig angesehen – das ist ein extremer Missstand», sagt Lucia. Für diese Menschen sei das TGG eine gute Option. Diesen Vorteil spricht auch Allemann an: «Einige Frauen vertrauen einer aktivistischen Hotline wie dieser womöglich mehr als einer anerkannten Beratungsstelle. Insbesondere Migrantinnen, die Angst haben, dass sie bei einer Meldung ausgeschafft werden könnten», sagt sie.
Ein weiterer Pluspunkt sei, dass die Aktivistinnen viele Sprachen abdecken und damit eine breite Community erreichen würden. Aktuell wird die Hotline in zwölf Sprachen geführt: Deutsch, Englisch, Französisch, Portugiesisch, Italienisch, Spanisch, Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Rumänisch, Farsi und BKS (Bosnisch, Kroatisch, Serbisch). Viele aus der Gruppe beherrschen mehrere davon. Wo es Lücken gibt, arbeiten die Aktivistinnen mit Dolmetscherinnen zusammen. «Unser Ziel ist es, so viele Sprachen wie möglich anzubieten», sagt Lea. Ihnen sei es wichtig, dass die Betroffenen von ihren Gewalterlebnissen in einer Sprache erzählen könnten, mit der sie sich wohlfühlten.