Wir sind nicht bereit für die Gefahren der Zukunft, sagt Alpen-Experte Boris Previšić
«Wir müssten uns das Wissen von Frankreich und Italien aneignen»

Boris Previšić, Leiter des Urner Instituts für Kulturen der Alpen erklärt im Interview, weshalb der drohende Absturz von Brienz uns alle trifft – und weshalb wir als Alpenland nicht auf die Krisen der Zukunft vorbereitet sind.
Publiziert: 13.05.2023 um 13:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.05.2023 um 10:49 Uhr
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Riesige Felsmassen bedrohen das Dorf Brienz - die Evakuierung ist am 11. Mai gestartet.
Foto: IMAGO/Bernd März

Herr Previšić, Sie sind Professor für Literatur und Kulturwissenschaft an der Uni Luzern und leiten das Urner Institut «Kulturen der Alpen». Was sind überhaupt «Kulturen der Alpen» und weshalb die Mehrzahl?
Die Geologie und die geografische Ausrichtung bestimmt unter anderem die Kultur einzelner Orte. Das Tessin ist beispielsweise gegen Süden ausgerichtet, andere Orte eher französisch oder deutschschweizerisch geprägt. Das beeinflusst nicht nur die Sprache, sondern auch Kulturtechniken wie Landwirtschaft. Es gibt nicht nur eine «Alpenkultur». Und es gibt weitere grosse Unterschiede zwischen einzelnen Orten.

Können Sie das konkret benennen?
Viele Bergregionen sind abgeschieden. Gleichzeitig sind sie aber auch auf Austausch angewiesen, entweder gerade wegen dieser Abgeschiedenheit, aber auch vielerorts, weil die Bergpässe früher Handelsrouten waren. So ergibt sich eine spannende, vielfältige Mischung zwischen Abgeschiedenheit und Weltoffenheit.

Inwiefern prägen die Alpen das Nationalverständnis der ganzen Schweiz?
Sehr stark. Das beginnt bereits in der Aufklärung, genauer 1729 mit Albrecht von Hallers Gedicht «Die Alpen», das er zeitlebens stets wieder umschrieb. Im Gedicht versucht er auf 47 Strophen die Schönheit unserer Berge und Eigenheiten unserer Kultur einzufangen. Und, auch interessant, er benützt den Begriff «Gold» sozusagen als Schimpfwort – übrigens auch ein Hinweis auf die «alpine» Kultur.

Boris Previšić

Boris Previšić (51) ist als Sohn eines Landwirts in Fischenthal (ZH) aufgewachsen. Der Professor leitet das Urner Institut «Kulturen der Alpen», das zur Universität Luzern gehört. In seinem neusten Buch «Zeitkollaps. Handeln angesichts des Planetaren» analysiert er Stand und Wege aus der Klimakatastrophe – auch mittels Beispielen aus Literatur und Kultur der Alpen. Er ist Vater dreier Söhne. Das Online-Magazin des Urner Instituts mit populärwissenschaftlichen Artikeln zu den Alpen heisst Syntopia Alpina.

Boris Previšić (51) ist als Sohn eines Landwirts in Fischenthal (ZH) aufgewachsen. Der Professor leitet das Urner Institut «Kulturen der Alpen», das zur Universität Luzern gehört. In seinem neusten Buch «Zeitkollaps. Handeln angesichts des Planetaren» analysiert er Stand und Wege aus der Klimakatastrophe – auch mittels Beispielen aus Literatur und Kultur der Alpen. Er ist Vater dreier Söhne. Das Online-Magazin des Urner Instituts mit populärwissenschaftlichen Artikeln zu den Alpen heisst Syntopia Alpina.

Die Schweiz hat aber mit Gold doch eher eine sehr innige Beziehung?
Ja, aber nicht unbedingt im alpinen Raum. Je kälter in einem Land die klimatischen Bedingungen, desto sozialer sind in der Regel die Kulturen – man ist auf gegenseitige Hilfe stark angewiesen. Bis heute schlägt sich das nieder: skandinavische Gesellschaften sind beispielsweise sozial fortschrittlicher als wir. Aber es gibt noch weitere Zusammenhänge mit der Schweizer Psyche und den Bergen.

Welche?
Unsere Berge bedeuten psychologisch gesehen auch Schutz. Man sieht das etwa in den Konzepten der Landesverteidigung, die in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs erarbeitet wurden. Der sogenannte «Rückzug ins Reduit», diverse Bunker in den Alpen, in die sich das Militär im Ernstfall hätte zurückziehen sollen. Oder die geistige Landesverteidigung, die unter anderem das Bild des aufrechten, starken, freiheitsliebenden Berglers zelebrierte. Auch während der Pandemie bekamen unsere Alpen Zulauf: Viele Menschen entflohen den Städten, weil sie sich in der relativen Abgeschiedenheit der Berge sicherer fühlten.

Was bedeutet es also für die Schweizer Psyche, wenn unsere Berge bröckeln und ganze Dörfer abrutschen?
Jede Kultur definiert sich unter anderem durch die Landschaft, in der sie entstand und in der sie sich bewegt. Unsere Berge haben wir als «ewig» dastehend verinnerlicht, ein Symbol der Beständigkeit. Das ist trügerisch. Es schmelzen ja nicht nur unsere Gletscher dahin und es taut nicht nur der Permafrost auf, was die Felsen insgesamt instabiler macht. Langanhaltende Dürren gefolgt von grossen Niederschlägen lassen Steilhänge noch schneller erodieren. Bei einer raschen Änderung der klimatischen Verhältnisse können sich auch ganze Landschaften relativ schnell ändern – und alles umwälzen, was in Hunderten von Jahren als gegeben galt.

Eine Zeit der Krise ist immer auch eine Zeit grosser Innovationssprünge. Sehen Sie da bezogen auf den Alpenraum schon welche?
Wir sind Weltklasse, was Systeme zur Früherkennung geologischer Ereignisse wie Fels- und Bergstürze betrifft. Ansonsten besorgt mich eher, dass wir hinter den Ereignissen hinterherhinken, auch im Vergleich zu Nachbarländern.

Können Sie da ein konkretes Beispiel machen?
Im Dürre-Sommer letztes Jahr war der gesamte Walliser Wald komplett ausgetrocknet. Die Wälder bestehen aus Föhren. Ein Funke hätte gereicht, und ganze Hänge wären explosionsartig in Flammen aufgegangen. Die Feuerwehr wäre nicht im Geringsten dazu ausgestattet gewesen, mit solch einem Waldbrand umzugehen. Und solche Brände werden kommen. Wir müssten uns dringend das Wissen von Frankreich und Italien aneignen, die uns bei der Bekämpfung solcher Ereignisse weit voraus sind.


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