Wohl schon über 100 Zoom Calls hat die Zürcherin Anina Mutter (33) seit dem Ausbruch der Pandemie gemacht. Doch vor diesem einen war sie trotzdem etwas aufgeregt. «Es war eine sehr spezielle Situation für mich», sagt sie. Ihr Gesprächspartner: Anirudhda Halve (47). Er baut in Indien Baumwolle an – für die Kleider, die Anina Mutter trägt.
Woher kommen die Jeans, das T-Shirt, der Pullover, die wir in diesem Moment tragen? Obwohl uns die Digitalisierung weltweit vernetzt, wissen wir erstaunlich wenig darüber. Um eine direkte Verbindung zwischen Produzent und Konsument herzustellen, hat das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) den Zoom Call organisiert.
Die anonyme Masse erhält ein Gesicht
Bauer Halve sitzt auf einem seiner Felder, gegen einen Baum gelehnt, und spricht ins Smartphone. Er lebt im Nimar-Tal in Zentralindien. «Seitdem ich weiss, dass ich mit einer Kundin sprechen kann, bin ich aufgeregt», sagt er. Zur gleichen Zeit sitzt Anina Mutter in ihrer Wohnung mitten in Zürich, Tausende Kilometer entfernt. Hier, wo das Endprodukt seiner Baumwollblüten in den Schaufenstern landet.
«Ich war noch nie in Indien», erzählt Mutter nach dem Zoom Call. Via Dolmetscher mit einem Menschen zu sprechen, der ein so anderes Leben führe als sie, habe sie berührt. Die Nachhaltigkeits-Bloggerin sei sehr neugierig gewesen, wer ihr da gegenübersitzen werde. «Denken wir darüber nach, wer unsere Kleider herstellt, denken wir schliesslich meist an eine anonyme Masse Menschen.» Mit Halve habe diese ein Gesicht erhalten, eine Geschichte. Und sei dadurch viel greifbarer geworden.
«Haben Sie eine Nachricht an uns Konsumenten?», fragt ihn Mutter. Er antwortet: «Konsumenten denken nur an die Kleider – aber nicht daran, welche Anstrengungen nötig sind, um sie herzustellen. Doch erst dann kann man realisieren, was alles in dem Stoff steckt, den man trägt.»
Baumwolle verbraucht 16 Prozent aller Insektizide
Halve lebt mit seiner Familie im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh. Auf einer Fläche von zehn Fussballfeldern baut er seit 14 Jahren Baumwolle an. Sein Anbau ist biologisch, er verzichtet auf chemische Düngemittel und gentechnisch verändertes Saatgut. Durch den Bio-Anbau sind seine Erträge im Durchschnitt niedriger – dafür ist die Fruchtbarkeit seines Bodens langfristig gesichert.
Zur Schädlingsbekämpfung mischt der Bauer ein Extrakt aus den Blättern von Pflanzen der Region – im Gegensatz zu konventionellen Plantagen. Weltweit sind 16 Prozent aller Insektizide und sechs Prozent aller Pestizide auf den Baumwollanbau zurückzuführen.
Nicht nur für die Böden, sondern auch für die Arbeiterinnen und Arbeiter sei dies problematisch, sagt Anirudhda Halve im Zoom Call. «Durch die Pestizide können Hautkrankheiten, Krebs und Bluthochdruck verursacht werden.» Krankheiten, die Halve in der Region, in der er lebt, häufig sehe. Deshalb hat 1995 bereits sein Vater auf Bio-Anbau gewechselt.
Seine Plantage ist Teil des Syscom-Programms vom FiBL Schweiz, das seit knapp 15 Jahren biologische und konventionelle Anbausysteme in Indien, Bolivien und Kenia vergleicht. Finanziert wird das Programm von Biovision, vom Liechtensteinischen Entwicklungsdienst LED, vom Coop Fonds für Nachhaltigkeit und von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit.
Gemäss FiBL liegt der Anbau von Bio-Baumwolle in Indien zwar im Trend, macht jedoch erst zwei Prozent des landesweiten Baumwollanbaus aus. Die Hälfte der weltweit verarbeiteten Bio-Baumwolle stammt von diesen zwei Prozent aus Indien.
Eine Botschaft an die Kundschaft
Einen der Menschen zu treffen, die sich am anderen Ende der Lieferkette befinden, sei ein sehr spezielles Gefühl gewesen, sagt Mutter, die selber seit Jahren auf nachhaltige Mode setzt. Was sie immer wieder überrasche, sei, wie gut Konsumentinnen und Konsumenten darin sind zu verdrängen: «Eigentlich ist es mittlerweile allgemein bekannt, dass die Arbeitsbedingungen in der Kleiderbranche meist sehr schlecht sind und dass viele Menschen darunter leiden.»
Natürlich sei unser System auch nicht darauf ausgelegt, dass diese Informationen einen nachhaltigen Wandel begünstigen, sagt Mutter. «Zudem werben die Modelabels logischerweise nicht damit, dass ihre Angestellten fast nichts verdienen und die Kleidung trotzdem bei uns ankommt.»
In dem Format sieht sie Potenzial: «Ich denke, wenn man plötzlich jemanden wie Anirudhda Halve kennt, fällt es einem viel schwerer, Fast Fashion zu konsumieren.» Die Mode also, die schnell und trendbezogen designt und zu Niedrigstpreisen produziert und verkauft wird. «Aber was nach so einem Gespräch auf jeden Fall geschieht, ist, dass man ein Gesicht vor Augen hat, wenn man das nächste Mal Kleider kauft.»