Der Biber von Oerlikon ist nur der Anfang
Wie die Tiere die grossen Städte zurückerobern

Die Biodiversität in der Schweiz ist bekanntlich schlecht. Die gute Nachricht: Grosse Städte sind zu Oasen geworden, in denen die Biodiversität steigt. Von hier aus könnten sich viele Arten wieder verbreiten. Eine Spurensuche.
Publiziert: 17.09.2023 um 18:27 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2023 um 11:53 Uhr
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Auch Biber konnten sich dank Schutzmassnahmen wieder schweizweit verbreiten. Hier nagt einer in der Nacht an einem Baumstamm im Leutschenbach in Zürich-Oerlikon.
Foto: Keystone
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Heftige Unwetter, Trockenheit, Hitze, Erdbeben, gefährdete und aussterbende Tierarten: Die Natur liefert in jüngerer Vergangenheit weltweit regelmässig besorgniserregende Schlagzeilen. Doch manchmal gibt es aus der Umwelt auch gute Nachrichten – wenn man genau hinschaut und auch das vermeintlich Kleine sieht.

Aber kurz vorneweg: Wie hinlänglich bekannt ist, steht es um die Schweizer Biodiversität miserabel. Gemäss dem Bundesamt für Statistik sind aktuell die Hälfte der Lebensräume und ein Drittel der Arten in der Schweiz bedroht, die genetische Vielfalt der Arten sinkt. Aktuell ruft etwa die «Thurgauer Zeitung» den Notstand aus, was Schmetterlinge betrifft: Die Populationen im Thurgau seien dieses Jahr noch einmal drastisch eingebrochen. Eine solche Verarmung der Biodiversität hat vielfältige und direkte Auswirkungen auf uns – und verschwindende Schmetterlinge sind dabei nur besonders sichtbar. Viele andere Arten verschwinden für den Laien ganz unbemerkt. Als Beispiel nur eines davon: Sinkt die genetische Vielfalt der Pflanzen in einem Gebiet, sinkt auch die Vielfalt der Mikroorganismen in den Böden – und damit sinkt der landwirtschaftliche Ertrag, der auf solchen Böden erzielt werden kann. Die Krise der Biodiversität in der Schweiz geht uns also alle etwas an. 

Umso schöner, wenn es auch einmal gute Nachrichten gibt – und dies von unerwarteter Seite. Ausgerechnet in einigen grossen Städten steigt die Biodiversität. Manchmal niederschwellige, manchmal gezielte Massnahmen führen dazu, dass einzelne Tiere sich wieder zu vermehren beginnen oder sogar zuwandern, weil sie lebensfreundliche Bedingungen vorfinden. Und so trifft man im urbanen Umfeld heutzutage immer öfter und unerwartet auf alte Bekannte, die man vielleicht aus der Kindheit noch kennt und längst verloren glaubte. Sie sind wichtig, solche Begegnungen, weil sie in Zeiten ständiger schlechter Nachrichten ein Stück Hoffnung zurückbringen: Hoffnung darauf, dass es vielleicht gar nicht so viel braucht, um unsere Erde für diverse Spezies wieder lebensfreundlicher zu erhalten. 

So sagt etwa Tanja Huber, Mediensprecherin von Grün Stadt Zürich, dem städtischen Amt, das für Parks und Grünanlagen zuständig ist: «Wir pflanzen vielfältige, mehrheitlich einheimische Pflanzen an und schaffen so Biodiversität. Kleintiere wandern dann von selbst zu – und schaffen wiederum Lebensgrundlagen für grössere Tiere.» Wiederansiedlungsprogramme für einzelne Tierarten braucht es dadurch nicht. Ähnlich klingt es in Basel und Bern, wo bereits niederschwellige Interventionen viel brachten oder man Brachflächen einfach sich selbst – und der Natur – überlässt.

Eisvögel, schöne Falter und Biber an der Limmat in Zürich

So sind etwa dieser Tage bei einem Spaziergang stadtauswärts entlang der Limmat in Zürich diverse Exemplare eines hübschen, rot-schwarzen Falters namens Sechsfleck-Widderchen zu bestaunen. Sie sitzen mit Vorliebe auf den violett-blauen Blüten der Wiesenskabiose, saugen dort Nektar und erfreuen ganz ohne Absicht das Auge des Spaziergängers. Auf die rote Liste musste die rot-schwarz getupfte Schönheit zwar nie gesetzt werden, dennoch findet sie entlang der Limmat erst seit kürzerem wieder geeignete Lebensbedingungen. Der Falter braucht zum Leben nicht viel: Als Raupe futtert er Hornklee, als Falter mag er, wie gesagt, gern Skabiosen. Beides sind relativ häufige Wiesenblumen. Damit der Falter eine Lebensgrundlage findet, müssen diese zwei Pflanzen vorhanden sein. Und damit er sich in Ruhe verpuppen und überwintern kann, muss wenig gemäht werden respektive Teile der Wiese müssen stehen gelassen werden. Seit mehr als zehn Jahren handhabt das der Kanton, der für die Limmatufer zuständig ist, so – die Insekten freuts. 

Auch einfach so wieder da ist seit 2014 im selben Limmatufer-Abschnitt der Biber. Mittlerweile muss die Stadt einzelne Bäume auf der Werdinsel und an den Ufern mit Drahtgeflechten schützen, damit sie nicht allesamt vom eifrigen Nager gefällt und für den Dammbau eingesetzt werden. Trotz gefällten Bäumen kann der Einfluss des putzigen Bibers auf ihre jeweiligen Ökosysteme nicht hoch genug eingeschätzt werden. Diverse Studien bestätigen: Dammbauten von Bibern verjüngen den umliegenden Wald, heben den Grundwasserspiegel, da Wasser zurückgehalten wird, und schaffen gleich für mehrere Tierarten Lebensbedingungen: Fische benutzen die seichten, ruhigen Gewässerabschnitte vor dem Damm als Kinderstube, vom Laich und von den Jungfischen profitieren wiederum Vögel und Reptilien. Und auch kleine Nager finden in den Dammbauten Unterschlupf – genauso wie diverse Pflanzenarten, die sich auf älteren Dammbauten ansiedeln. Für lokale Ökosysteme könnte man fast schon sagen: Biber gut, alles gut. Und nachdem der Biber um 1900 nahezu ausgerottet wurde, leben heute dank Schutz- und Renaturierungsmassnahmen insgesamt wieder rund 4900 Tiere in der Schweiz und in Liechtenstein. 

Eine weitere Augenweide wird im selben Gebiet in den Wintermonaten sichtbar. Es sind blau-orange Tupfer auf kahlen Ästen, die sich beim Näherkommen des Spaziergängers unvermittelt in die Lüfte erheben und schillernd türkisblau-blitzende Schwingen und Rücken offenbaren: Eisvögel. Die wunderschönen Kleinvögel, die geschickt nach Fischen jagen, waren in ihren Beständen gefährdet. Schon ab dem Jahr 2004 verabschiedeten deshalb verschiedene Kantone Aktionspläne für den Eisvogel – mit Erfolg. Mittlerweile gibt es in der Schweiz wieder 400 bis 500 Brutpaare. 

Die eher niederschwelligen Interventionen von städtischen Behörden wie Grün Stadt Zürich oder der Fachstelle Natur und Ökologie in Bern oder aber auch von städtischen Baugenossenschaften, die in ihrer Umgebungsgestaltung zunehmend auf Ökologie setzen, zeigen bereits Wirkung. Nun kommen auch kantonal organisierte Grossprojekte hinzu, zumindest in Zürich und Basel: Ab 2027 wird auf einer Länge von drei Kilometern die Limmat vor Schlieren renaturiert. Und in Basel entsteht ein rund 45 Hektar grosses Naturschutzgebiet neu – doch dazu später mehr, zunächst ein kleiner Exkurs nach Bern. 

Von 40 Arten auf 135 Arten in einer Siedlung in Bern

Biber und Eisvögel gibts an und in der Aare auch wieder, bei einem Bad schwimmt auch einmal einer der baumfällenden Nager neben einem. Dass aber auch kleine Interventionen grosse Wirkung zeigen, zeigt sich gut an einem weiteren Berner Beispiel: Dort hat die Fachstelle Natur und Ökologie im Jahr 2013 in der Wohnsiedlung Fröschmatt aus den 1950er-Jahren eine ökologische Aufwertung veranlasst. Es wurden Wildblumenwiesen gesät, einheimische Sträucher gepflanzt, Trockenmauern und Hügel angelegt, Totholzhaufen angehäuft und sogenannte Ruderalflächen – Böden mit wenig Nährstoffen – für spezialisierte Wildblumenarten, die auf reicheren Böden verdrängt werden, eingerichtet.

Erfolgskontrollen zeigten: Vor der Aufwertung fanden ungefähr 40 Tierarten in der Siedlung Lebensraum. Nach der Intervention hat sich die Artenzahl von Tieren, insbesondere von Insekten, schon nach eineinhalb Jahren auf 78, nach viereinhalb Jahren auf 120 und nach sieben Jahren auf 135 Arten erhöht – also mehr als verdreifacht. Darunter auch gefährdete Wildbienenarten. Ein solch reiches Nahrungsangebot hilft natürlich auch Vögeln. So ist etwa in Bern der andernorts sehr selten gewordene Gartenrotschwanz mit seinem wunderschön-wehmütigen Gesang noch zu hören. 

Blaue Flügel und Gequake in Basel

Auch in Basel gibt es ein Paradebeispiel für eine urbane ökologische Oase, die aber wegen der Verdichtung unter Druck steht. Dem ehemaligen Badischen Rangierbahnhof wird aktuell ein Denkmal gesetzt: Der Film «Bahnhof der Schmetterlinge» von den Regisseuren Daniel Ballmer und Martin Schilt läuft gerade in den Kinos. Das Areal wurde als Bahnhof in den 1990er-Jahren geschlossen und im Jahr 1999 neu als Container-Umschlagplatz genutzt. Hier werden seither Container umgeladen – doch weit unter Kapazität. Viel Land liegt brach. Auf den Ruderalflächen, also den nur sparsam bewachsenen, nährstoffarmen Böden, hat sich eine einzigartige Vielfalt an Schmetterlingen, Faltern und sonstigen Insekten eingestellt, unter anderem die gefährdete Blauflügelige Ödlandschrecke, die genau auf solch spärlich bewachsene Magerflächen spezialisiert ist. Ihre Schönheit wird erst offenbar, wenn man ihr bei einem Spaziergang zu nahe tritt: Dann schreckt das Insekt, das normalerweise gut getarnt und unscheinbar am Boden sitzt, auf und offenbart wunderbar azurblaue Flügel, eine Farbe, die das Meer nicht schöner hervorbringen könnte.

Der Rückzugsort für die schöne, gefährdete Schrecke ist hingegen in Gefahr: Letzten Dienstag hat das Bundesamt für Verkehr dem Projekt «Gateway Basel Nord» die Baubewilligung erteilt. In Zukunft soll auf dem Areal ein grosser Umschlagplatz für Container von Schiene, Strasse und Bahn entstehen. Die gute Nachricht dabei: Immerhin haben Wirtschaft und Politik aus der Vergangenheit gelernt – oder auf den Aufschrei diverser Naturschutzorganisationen reagiert: Eine Ersatzfläche von 45,8 Hektaren soll den diversen Arten dank eigens erstellten Wanderkorridoren die Übersiedlung ermöglichen, wenn die Bagger aufkreuzen und den «Bahnhof der Schmetterlinge» unwiederbringlich zerstören. So soll eine viermal grössere Naturschutzfläche mit selten gewordenen Trockenwiesen entstehen, als sie auf dem Güterbahnhof zur Verfügung stand. 

Die grosse Vielfalt an Insekten in und um Basel hilft auch einem anderen Sympathieträger: Der grasgrüne Europäische Laubfrosch, vielerorts ausgestorben, breitet sich in Basel wieder aus, insbesondere dank der Arbeit der Pro Natura. Vom Schutzgebiet Eisweiher/Wiesenmatten im Landschaftspark Wiese aus, wo es noch Restbestände gab, hat Pro Natura 2020 vier geeignete weitere Standorte errichtet. Seither hat sich die seltene Art deutlich ausbreiten und seine Population vergrössern können.

Es braucht dennoch mehr Schutz

Trotz dieser Erfolgsgeschichten dürfe man aber nicht aus den Augen verlieren, dass es dringend weitere Massnahmen und Renaturierungen brauche, sagt Sabine Tschäppeler, Leiterin der Berner Fachstelle Natur und Ökologie. «Gefährdete Arten können kaum nur im Siedlungsgebiet erhalten bleiben. Dazu sind die Populationen zu klein und der Nutzungsdruck zu gross.» Aber es sei wichtig, die Arten zu erhalten, bis im Umfeld wieder mehr geeignete Fläche zur Verfügung stehen. «Damit sie dann noch vorhanden sind und wieder einwandern können», sagt Tschäppeler.

Deshalb seien die Massnahmen im städtischen Raum auch so wichtig – um den noch vorhandenen Arten Überlebensraum zu bieten, den sie auf den intensiv genutzten landwirtschaftlichen Flächen nicht mehr finden. Tschäppeler appelliert dabei auch an Privatpersonen: «Auch im Siedlungsraum stehen trotz steigender Biodiversität Lebensräume unter Druck. Grund dafür ist die Siedlungsentwicklung nach innen – Stichwort Verdichtung. Deshalb ist es wichtig, im öffentlichen Raum, im Wohnumfeld und in Privatgärten Lebensraum zu schaffen.» Konkret bedeutet dies: keine Schottergärten anlegen, einheimische Sträucher als Hecken pflanzen, statt englischen Rasen zu unterhalten, auch Platz für einheimische Wildblumen schaffen, Totholz- und Komposthaufen anlegen. 

Die gute Nachricht: Jeder kann etwas tun, jeder Quadratmeter hilft

Das Gute an der Sache: Das Portemonnaie schmerzt dies nicht oder nur wenig, viele Interventionen, die etwas nützen, sind gratis – etwa Holzhaufen anzulegen, weniger zu mähen und Wildblumen blühen zu lassen. Bei einer Suche mit den Stichwörtern «Biodiversität Garten Unesco» findet man etwa über Google eine Broschüre, die aufzeigt, welche kleinen Massnahmen grosse Wirkung zeigen. Wer die Stichwörter «Biodiversität Fördergelder» und den Namen seines Kantons, seiner Stadt oder sogar der Gemeinde googelt, findet je nach Standort auch Links zu Förderprogrammen. Diese beinhalten Gratisberatungen, aber auch konkrete finanzielle Unterstützung, um den eigenen Garten naturnaher zu gestalten. So gibt es etwa in der Gemeinde Bolligen BE Fördergelder für die Errichtung von Holzhaufen oder die Pflanzung von einheimischen Büschen, in Zürich gibt es das Förderprogramm «Mehr als Grün». 


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