Covid-Selbsttests funktionieren mit Wattestäbchen.
Alles über das Symbol der Pandemie

Das schmale Stäbchen mit wattierter Spitze ist ein Symbol der Pandemie. Das Hygieneprodukt reizt nicht nur unsere Schleimhäute, sondern erzählt auch viel über Migration und globalen Handel – und die Tendenz, dass wir immer mehr zu unseren eigenen Arztgehilfen werden.
Publiziert: 19.04.2021 um 10:49 Uhr
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Aktualisiert: 19.04.2021 um 11:44 Uhr
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Wenn Wattestäbchen sprechen könnten …
Foto: Thomas Meier
Silvia Tschui

Wattestäbchen sind angesichts der Covid-PCR und der Antigen-Tests schon länger im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde. Und mit den neuen Schnelltests hat auch jede Nase eine Meinung zu diesen – es entzündet sich ein Glaubenskrieg, der schon nach Pandemiebeginn zu schwelen begonnen hat. Wissenschaftlich orientierte Menschen denken sich: Gottlob, Covid-Schnelltest, her mit den blau-weissen Dingern, ich schieb die mir sofort in Mund oder Nase, um zu wissen, ob ich infiziert bin oder nicht.

Andere – mit Verlaub – wohl eher weniger rational veranlagte Menschen wittern angesichts der Schnelltests in Schulen Kindesmisshandlung oder vielleicht gar die nasale oder rachale Implantierung eines Mikrochips, den – natürlich – Bill Gates entwickelt hat. Oder vielleicht waren es auch kinderbluttrinkende Illuminaten, je nach der vorherrschenden Meinung der aktuellen Social-Media-Blase, in der man sich gerade tummelt.

Es liesse sich jetzt an dieser Stelle prächtig poetisch und tiefschürfend über die zwei diametral entgegengesetzten Enden des Stäbchens spekulieren und philosophieren und hierzu passende tiefsinnige gesellschaftliche Zusammenhänge finden. Dabei geben schon die nicht spekulationsbasierten Wattestäbchen-Fakten über vielerlei Auskunft. Über internationale Handelsströme etwa. Migrationsmuster. Oder über die wohl peinlichste Panne der deutschen Polizei der letzten Jahrzehnte.

Wir verdanken sie zarten Babyohren und spitzen Zahnstochern

Darum doch lieber zum Praktischen: Wattestäbchen sind eines der beliebtesten Hygieneprodukte. Das hat der US-Erfinder Leo Gerstenzang vielleicht schon vorausgesehen – die Idee fürs Wattestäbchen hatte er, als er in den 1920er-Jahren seiner Frau zusah, wie sie Watte um einen Zahnstocher wickelte, um ihrem Baby den Schmalz aus den Ohren zu wischen. Wobei die Watte der Legende nach ständig abgefallen sei. Und was man sich denkt, wenn ein Zahnstocher in den Ohren des eigenen Babys herumfuhrwerkt … jedenfalls entdeckt Gerstenzang in diesem Moment seine Marktlücke. Die flugs daraufhin entwickelten Wattestäbchen nennt er Q-Tips, wobei «Q» für Qualität steht und «tips» auf Deutsch «Spitzen» bedeuten. (Kleine Nebenbemerkung: Ein talentierter US-Rapper der Combo A Tribe called Quest nennt sich ebenfalls Q-Tip).

Die Rechte an den «Qualitätsspitzen» liegen seit Jahrzehnten beim britisch-niederländischen Konsumgüter-Giganten Unilever – und der wiederum hat 2004 die Produktionslizenz für den europäischen Raum der deutschen Firma Pelz übertragen. Mittlerweile produziert die Pelzgroup, die sich auf Vliesstoffe und Hygieneartikel aus watteartigen Materialien – Tampons, Windeln, Damenbinden – spezialisiert hat, ca. 1000 Millionen Wattestäbchen im Jahr. Und das Geschäft wächst jährlich um bis zu fünf Prozent.

Ohrenschmalz lügt nicht

Ein Wattestäbchen besteht aus einem Plastikstäbchen und – ja klar – Watte. Die wiederum besteht aus indischer, pakistanischer, türkischer oder tansanischer Baumwolle. Was Verstrickungen nach sich zieht: Wenn etwa ein Schiff im Suez-Kanal quer steht, kann die Baumwolle im Lager der Pelzgroup-Produktionsstätten in Wahlstedt nahe Lübeck schnell knapp werden. Oder wenn ein Land wie Indien neue Banknoten druckt – und dafür die Baumwolle selber braucht. Oder wenn, wie angesichts des Klimawandels immer häufiger, ganze Landstriche monatelang ausgedörrt sind und die Baumwollernte einbricht.

Aber es sind nicht nur Warenströme und ihre Hindernisse, über die uns Wattestäbchen viel erzählen könnten. Auch wie sich Menschenmassen im Laufe der Jahrhunderte verteilt haben, lässt sich an – nicht fachgerecht, nämlich im Ohr – benutzten Wattestäbchen ablesen. So gibt es etwa zwei Schmalzarten. Auf zum Selbsttest: Ist Ihres krümelig-trocken oder, pardon, eher schmierig-feucht? Sollten Sie die schmierig-feuchte Variante absondern, stammen Sie aus dem mitteleuropäischen Raum. Krümelt es Ihnen hingegen eher trocken aus den Ohren, deuten Ihre Gene auf einen Migrationshintergrund hin – Ihre Familie stammt demnach aus dem asiatischen oder afrikanischen Raum.

Ohrenstäbchen weg von den Ohren!

Wenn wir schon beim Schmalz sind: Fälschlicher- und fatalerweise werden die Stäbchen ja auch Ohrenstäbchen genannt. Fatalerweise, weil bei der vermeintlichen Reinigung des Ohrs mit Stäbchen nur ein Teil des Ohrenschmalzes tatsächlich aus dem Ohr gepult wird. Der Rest wird vom Stäbchen nach hinten gedrückt. Das ständig erneut ins Ohr gedrückte Schmalz geht nun mit einzelnen Wattefasern gern eine unheilige Allianz ein. Unter dem gelblich-bräunlichen, mittelfesten Schmalzwatte-Pfropfen können dann Entzündungen entstehen, die manchmal einen notfallartigen Besuch beim Arzt oder der Ärztin bedingen. Das medizinische Personal muss dann die meist über Jahre zusammengeschobenen gelblich-braunen, festen Schmalzwatte-Pfropfen mithilfe eines Instruments vom Trommelfell befreien.

Also Stäbchen weg von den Ohren! Korrektere Anwendungen wären: Gleich zwei Stäbchen aufs Mal benützen, um damit auf hygienische Art Pickel auszudrücken. Oder für Frauen: Mit ihnen lassen sich diese hartnäckigen Nachteulen-Zombie-Schatten, die wasserfeste Wimperntusche beim Abschminken unter den Augen hinterlässt, loswerden. Männer brauchen sie im Allgemeinen wohl eher, um alle Schaltjahre mal die Tastatur ihres Computers zu reinigen.

Schuld daran war nur das Wattestäbchen

Diese vielen verschiedenen Anwendungen von Wattestäbchen sind auch für ein grosses ermittlungstechnisches Missverständnis verantwortlich. Die bundesdeutsche Polizei hat jahrelang vor einem Rätsel gestanden: Im ganzen deutschen Raum konnten von 1993 bis 2009 unzählige Morde, Verbrechen und Einbruchsdelikte immer derselben weiblichen Person zugeschrieben werden. Landauf, landab fand die Polizei bei den unterschiedlichsten Delikten immer wieder dieselbe DNA.

Die unter dem Namen «Heilbronner Phantom» gesuchte Serienmörderin soll schliesslich, so denkt damals die Polizei, sogar 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter umgebracht haben. 2009 folgt die Auflösung: Das «Heilbronner Phantom» gibt es nicht, die DNA-Spur führt zu einer Mitarbeiterin des Verpackungsunternehmens, die die bei der polizeilichen Spurensuche verwendeten Wattestäbchen eingepackt hat. Und die besagte Polizistin wurde von einer Nazi-Terrororganisation ermordet.

Vom Selbsttest zu Big Data

Jetzt, da der Selbsttest für zu Hause für alle erhältlich ist, müssen wir uns mit den Stäbchen selbst an der Nase nehmen. Und zwar ca. zwei Zentimeter tief. Diese Selbsttest-Handlung zeigt einen grösseren Trend auf: Wir müssen immer mehr selbst erledigen.
Dank oder wegen des Internets sind wir zu unseren eigenen Bankangestellten, Reisebüro-Mitarbeitern, Versicherungsexperten, Anlageberatern und Vorsorgeexperten geworden. Und ja, wir werden auch zu unseren persönlichen Arztgehilfen. Wir googeln ja seit längerem schon Krankheitssymptome, bevor wir zum Doktor gehen – und haben uns die Diagnose meist sogar selbst schon gestellt. Natürlich stets die allerallerschlimmstmögliche.

Führende Pharmakologen haben bereits einen Begriff dafür: «Bürgerwissenschaftler» nennt das etwa Christoph Franz, Verwaltungsratspräsident von Roche, in seinem Buch «Die digitale Pille» und meint damit aber auch, dass wir freiwillig Daten über uns sammeln – etwa mit digitalen Gesundheitsgadgets – und diese Datensammlern zur Verfügung stellen.

Das ist die Fortsetzung eines lang anhaltenden Trends, erklärt Eberhard Wolff, Kulturwissenschaftler und Medizinhistoriker an den Unis Zürich und Basel: «Seit der Etablierung des selber Fiebermessens vor mehr als einhundert Jahren messen und kontrollieren wir unseren Zustand immer mehr selber: Gewicht, Blutdruck, Blutzucker, Bewegung, Schlaf, Schwangerschaft, Intelligenz und so weiter. Nicht nur digitale Technologien haben das angeschoben.»

Der Corona-Selbsttest ist gemäss Wolff einfach ein neuer Bereich unter vielen. Er glaubt auch, dass diese Selbstmessungen zunehmen werden – bis wir, ungefähr wie unsere Autos, in einem Zustand ständiger Selbstbeobachtung und Selbstregelung sind. Schwierig könnte das gesellschaftlich laut Wolff dann werden, wenn das Dauermessen gesellschaftlich eingefordert wird und vom Menschen ständige Selbstanpassungen erwartet werden.

Andererseits könnte es das notorisch überlastete, teure Gesundheitssystem stark entlasten, wenn weitere Selbsttests auf den Markt kämen. Die Forschung geht jedenfalls längst dorthin: So arbeiten etwa Wissenschaftler der australischen Universität Queensland schon seit längerem an einem einfachen Krebs-Früherkennungs-Selbsttest. Ob der dereinst auch mit Wattestäbchen funktionieren wird, ist aber noch unklar.

Finger rein in die Ohren!

Zum Abschluss fehlt aber die Beantwortung der allerdringendsten Frage im Bereich Wattestäbli – und wir kommen ein letztes Mal, versprochen, auf Ohrenschmalz zurück: Wie um Himmels willen kriege ich die gelbliche Masse aus dem Ohr, wenn ich, gopfridli, kein Ohrenstäbli benutzen darf? Die Antwort ist denkbar einfach: Man nimmt unter der warmen bis heissen Dusche den kleinen Finger, schabt sich das Zeug vorsichtig mit dem Fingernagel aus dem Ohr und hält den kleinen Finger danach unter den heissen Wasserstrahl. Einfach, nicht? Ihr Ohrenarzt wird Danke sagen. Und die Umwelt. Die Plastikstäbchen zwischen den Wattebäuschen verschmutzen nämlich die Meere.

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Finger weg von Wattestäbchen!

Sie stehen in jedem Badezimmer. Die Stäbchen mit den zwei wattigen Enden. Doch sind sie überhaupt dazu geeignet, die Ohren sauberzumachen?

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Sie stehen in jedem Badezimmer. Die Stäbchen mit den zwei wattigen Enden. Doch sind sie überhaupt dazu geeignet, die Ohren sauberzumachen?

Kampf gegen den Plastikmüll

35% Plastik im Meer sind synthetische Fasern. In den Ozeanen wirbeln riesige Abfallinseln, die bis 400 Jahre zur Zersetzung brauchen. Über ein Drittel der Plastikverschmutzung verursachen allerdings unsichtbare Mikrofasern, die durchs Waschen synthetischer Kleider in den Wasserkreislauf geraten.

Im Kampf gegen den Plastikmüll will die britische Regierung bis Ende des Jahres Trinkhalme, Wattestäbchen und Umrühr-Stäbchen aus Kunststoff verbieten.

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