Wo heute Hipster ihren Filterkaffee mit Avocado-Toast und pochierten Eiern geniessen, Touristen Street-Art bewundern und Modeschüler ihre Kreationen ausführen, herrschte damals das Gesetz des Stärkeren. Wer überleben wollte, verdingte sich als Tagelöhner am Grossmarkt oder Hafen oder als Gelegenheitsprostituierte.
Die Gegend um Whitechapel und Spitalfields war verrufen als Einwanderungsviertel, in dem Deutsche, Hugenotten, Iren und jüdische Flüchtlinge vor osteuropäischen Pogromen seit Jahrhunderten eine erste Unterkunft fanden - oftmals in Armenhäusern mit Suppenküchen, die von der Heilsarmee unterhalten wurden.
Polizei tappte im Dunkeln
Ein Labyrinth von engen Höfen und Gassen mit vielen Herbergen und kleinen Werkstätten, in dem Jack the Ripper unbehelligt morden konnte. Zwar gab es viele Verdächtige, doch bis heute wurden die fünf Morde nicht gelöst, die ihm sicher zugerechnet werden.
Innerhalb einer guten Woche nach dem ersten Mord wurde sein zweites Opfer entdeckt, Annie Chapman. Ein Teil ihrer Eingeweide war entfernt worden - eine erste Eskalation.
Drei Wochen später dann zwei Morde in einer Nacht: Elizabeth Stride um ein Uhr nachts - dabei schien der Mörder überrascht worden zu sein - und 45 Minuten später Catherine Eddowes, deren linke Niere und Gebärmutter fehlten.
Zusätzliche Polizisten liefen Streife auf den Strassen, Zivilbeamte mischten sich unter Betrunkene und Obdachlose. Doch es half nichts: Am 10. November beendete der Killer seine Serie mit dem Mord an Mary Kelly, die im Bett in einer schäbigen Unterkunft gefunden wurde, ein Teil ihrer Organe neben ihr auf einem Tisch.
Die Polizei tappte im Dunkeln; moderne Kriminaltechniken wurden erst Jahre später erfunden und eingesetzt. Polizisten selbst beseitigten mögliche Spuren, darunter ein Schriftzug an einer Wand, den vielleicht der Mörder hinterlassen hatte.
Die Presse berichtete über alle grausigen Details und verdammte die erfolglose Ermittlungsarbeit der Polizei - auch aus Rache dafür, dass Scotland Yard keine Informationen herausgab.
Viele Verdächtige, aber kein Täter
Der Modus Operandi des unbekannten Mörders war klar: Die meisten seiner Opfer waren Ende 30 oder über 40, sie alle waren Prostituierte gewesen oder arbeiteten noch in dem Gewerbe. Der Täter tötete am Wochenende oder an Feiertagen, schnitt ihre Kehle durch und verstümmelte sie auf groteske Art und Weise.
Möglicherweise hatten Passanten ihn einmal sogar zu Angesicht bekommen: Das vierte Opfer, Catherine Eddowes, wurde in Begleitung eines Mannes gesehen, noch zehn Minuten vor der Entdeckung der Leiche. In der «Times» beschrieb ein Zeuge ihn als «etwa 30 Jahre alt, 1,75 Meter gross, heller Teint, mit kleinem blondem Schnurrbart, rotem Halstuch und spitzer Mütze«.
Hunderte von Bekennerschreiben gingen bei Polizei und Medien ein, darunter auch einer von einem «Jack the Ripper», der dem unbekannten Serienmörder seinen Namen gab. Seine Echtheit wird heute bezweifelt, aber er beflügelte die Fantasie vieler damaliger Reporter, Trittbrettfahrer und Hobby-Detektive - bis heute.
Verdächtige gab es zur Genüge. Sie reichten von Ex-Liebhabern, Kriminellen mit guter Ortskenntnis, Schlachtern, Ärzten oder Hebammen wegen ihres anatomischen Wissens, Freimaurern, Einwanderern, dem Enkel oder doch vielleicht Leibarzt von Queen Victoria, Scharlatanen und Zauberern bis hin zu einer Gruppe von Anarchisten, die angeblich unter dem Einfluss eines teuflischen russischen Genies standen, das ausserdem für die britische Regierung spionieren sollte. Es half nichts - der Mörder wurde nicht gefasst.
Dieser nette Herr mit Schnurrbart hatte es in sich: So soll Jack the Ripper ausgesehen haben, der legendäre Londoner Prostituiertenmörder.
Dieser nette Herr mit Schnurrbart hatte es in sich: So soll Jack the Ripper ausgesehen haben, der legendäre Londoner Prostituiertenmörder.
«Jack the Ripper» fasziniert bis heute
Weltweit sorgte das Monster vom East End 1888 für Schlagzeilen. Kein Wunder, dass innerhalb von Monaten der erste Roman über den Serienmörder erschien und seine Taten in Literatur, Film und Theater aufgegriffen wurde. Frank Wedekind liess 1904 seine «Lulu» vom Ripper ermorden, und der Maler George Grosz posierte 1918 als Lustmörder in einem Selbstporträt.
Bis heute fasziniert er als personifiziertes Böse selbst Rechtsmediziner wie die Kriminalautorin Patricia Cornwell, die versuchte nachzuweisen, dass es sich bei dem Mörder um den Künstler Walter Sickert handelt - aber wenige überzeugte. Und fast jeden Tag führen Geschichtenerzähler Gruppen von Touristen aus aller Welt durch Whitechapel, auf den Spuren des mysteriösen Londoner Serienkillers. (SDA)