Nach dem Parforceritt des Jahres 1960 und dem Abschluss der Arbeit für die Praesens-Film AG war im März 1961 wieder ein Krankenhausaufenthalt in Winterthur notwendig. Insgesamt liess Dürrenmatt das Jahr 1961 ruhiger angehen, er reiste wenig – Ende Januar nach Berlin, wo der «Mississippi»-Film in den ccc-Ateliers gedreht wurde, im April drei Wochen Ferien in Sainte-Maxime (unterbrochen von der Trauerfeier für Oskar Wälterlin in Zürich), im Mai ein paar Tage nach München zur Premiere des Films und im Juni nach Berlin zu dessen Präsentation bei den Filmfestspielen, in der zweiten Juli-Hälfte nach Locarno als Jury-Präsident des Filmfestivals, dazwischen natürlich die regelmässigen Aufenthalte in Zürich.
Am 2. November 1961 besuchte Dürrenmatt die Premiere von Max Frischs neuem Stück «Andorra» am Schauspielhaus. Der Erfolg des Konkurrenten nagte offenbar an ihm – er konnte es nicht lassen, den Journalisten bei der Premierenfeier die angeblichen konzeptionellen Mängel des Stücks darzulegen – ein absoluter Faux-pas im Theatermilieu, der wohl nicht unbeträchtlich zur Abkühlung des Verhältnisses beigetragen hat.
Mehr Kritik als Gratulation
War schon das Verhältnis Dürrenmatts zum Roman «Stiller» so komplex, dass er mit der Besprechung nicht zurande kam und sie erst viel später als Fragment publizierte, so war er nun noch viel stärker zwischen Freundschaft, Konkurrenzverhältnis und kritischer Auseinandersetzung verstrickt: Er hatte «Andorra» schon im Frühjahr als Manuskript gelesen. In seinem Nachlass finden sich Entwürfe zu einem Brief, den er Frisch zu dessen 50. Geburtstag am 15. Mai 1961 schreiben wollte und der von Fassung zu Fassung mehr von einem Gratulations- zu einem Kritik-Brief wurde. (…) Vermutlich hat Dürrenmatt am Schluss den Brief gar nicht abgeschickt. Vielleicht hat er sich wenigstens zu einem Telefonat durchgerungen.
Der grosse Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990), für viele der grösste, fasziniert noch immer. Im Hinblick aufs Jubiläumsjahr 2021 erscheint die erste umfassende Biografie über ihn (von Ulrich Weber im Diogenes-Verlag). Sie erzählt vom kometenhaften Aufstieg des Pfarrerssohns aus dem Emmental zum weltberühmten Autor. BLICK druckt diese Woche exklusiv Auszüge ab.
Heute: Dürrenmatt und Frisch
15.9: Die Kindheit
16.9: Die Ehe
17.9: Die Autos
18.9: Der Abschied
Der grosse Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990), für viele der grösste, fasziniert noch immer. Im Hinblick aufs Jubiläumsjahr 2021 erscheint die erste umfassende Biografie über ihn (von Ulrich Weber im Diogenes-Verlag). Sie erzählt vom kometenhaften Aufstieg des Pfarrerssohns aus dem Emmental zum weltberühmten Autor. BLICK druckt diese Woche exklusiv Auszüge ab.
Heute: Dürrenmatt und Frisch
15.9: Die Kindheit
16.9: Die Ehe
17.9: Die Autos
18.9: Der Abschied
Paul Nizon, in dieser Zeit ein junger, aufstrebender Dichter, in Bern aufgewachsen, damals in Zürich und Rom lebend und von Frisch gefördert, hat in sein «Journal» eine scharfe Beobachtung von einem Treffen der beiden am 24. März 1961 in der Kronenhalle (dem noblen Stammlokal Dürrenmatts, wenn er am Schauspielhaus Zürich arbeitete) notiert – es handelte sich um das Vorbereitungstreffen für zwei Autorenabende im Schauspielhaus, von denen Dürrenmatt den einen moderierte. In dieser Beschreibung kommt exemplarisch die gemeinsame Rolle und das angespannte Verhältnis der beiden Titanen zum Ausdruck:
Herablassung, Spott, latente Rivalität
«Kronenhalle. 22 Uhr, langer Tisch. Frisch und Dürrenmatt sitzen sich wie zwei Gewerkschaftsführer gegenüber, es wird Literaturpolitik betrieben. Jeder hat seine Gefolgschaft imaginär hinter sich. Anwesend sind Ingeborg Bachmann, der Studioleiter von Radio Zürich Samuel Bächli und seine Frau, etwas später kommt Kurt Hirschfeld, der Direktor des Schauspielhauses Zürich, hinzu. Es geht um Hirschfelds Projekt: Dürrenmatt und Frisch sollen bei Vorlesungsabenden im Schauspielhaus deutsche Dichter einführen […]. Bei beiden ist Herablassung, Spott dabei, latente Rivalität. Sie sehen sich ihrer letztlich nicht einschätzbaren Bedeutung: dem Ruhm, kosmischer Grösse konfrontiert. Einer Ich-Repräsentation in öffentlicher Valuta. Durch die Währung gehören sie dem Publikum. Im Ruhmgewand, in der Rolle des Prominenten, zappelt und wehrt sich das Individuum. Dichter vorstellen. Gutmütig lästernde Witzeleien.
Frisch spielt die Vertrautheit, Freundschaft an, nimmt von da das Recht zu vertraulichen Anzüglichkeiten, mokiert sich über das Rivalenverhältnis etc., wirft sich selber dem Gespräch als Beute vor. Selbstpersiflage? Dürrenmatt ist kälter, rücksichtsloser. Der Rahmen ist nicht ganz wahr, Theater? Im Grunde macht Dürrenmatt eine halbe Konzession, während Frisch den Weg einer Ecce-homo-Offenheit spassig beschreitet, sich dabei viel mehr entblösst. Die Vertraulichkeit, Vorrecht der «Grossen», mit Institutionen wie Radio und Theater (bzw. deren Vertretern) in wegwerfenden Diminutiven wie Hirschi zu verkehren, sie schnell für etwas zu engagieren, wie Frisch, der sich die Geste erlaubt, einen Kleinen, mich nämlich, an den Hof zu ziehen; er hat, wie er sagt und ich sofort merke, hemmungslos Propaganda für mich gemacht: irrsinnig gute Mischung zwischen Bern und Russland (mein breites Lachen, ‹Seht ihr jetzt? So ist er …›). […] Komisch, peinlich dieser Eintritt ins fremde Milieu.»
Der Dürrenmatt-Biograf Ulrich Weber
Politischer Einmischer hier, Einzelgänger dort
Nizon, damals noch ein Protégé Frischs, hat sich später vermehrt Dürrenmatt zugewendet. Er steht exemplarisch für die Spannung, in der sich viele jüngere Schweizer Autoren zunehmend befanden: Zwischen Frisch und Dürrenmatt galt es sich zu entscheiden. Frisch war ein Autor, der mit seinem prononcierten politischen Engagement Vorbildcharakter hatte, Dürrenmatt ein Einzelgänger mit einzelnen Freunden unter den Autoren, Hugo Loetscher etwa wurde in den 1960er-Jahren zu einem solchen. Auch Peter Bichsel und Otto F. Walter verkehrten eine Zeit lang auf freundschaftlichem Fuss mit Dürrenmatt, aber er ertrug es nicht, dass sie auch Frisch nahestanden, und das Verhältnis kühlte sich deutlich ab.
Ulrich Weber (59) hat Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) nie erlebt. Aber er hat ihn seit seinem Studium durchlebt. «Ich kenne sein Leben in seiner Chronologie fast besser als mein eigenes», sagt Weber.
In Bern aufgewachsen, studierte Weber in seiner Heimatstadt und in München (D) Deutsche Literatur und Philosophie. Nach dem Studium begann er 1991 im damals neu gegründeten Schweizerischen Literaturarchiv, wo er heute noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter amtet, mit der Erschliessung von Dürrenmatts Nachlass.
Im Rahmen eines Forschungsprojekts schrieb der Germanist seine Doktorarbeit über den Schriftsteller und war im Jahr 2000 an der Gründung des Centre Dürrenmatt in Neuenburg beteiligt. Für die erste umfassende Dürrenmatt-Biografie konnte Weber auf viele erstmals zugängliche Dokumente zugreifen, so auf vernichtet geglaubte Briefe des Dichters an seine erste Frau Lotti.
Ulrich Weber (59) hat Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) nie erlebt. Aber er hat ihn seit seinem Studium durchlebt. «Ich kenne sein Leben in seiner Chronologie fast besser als mein eigenes», sagt Weber.
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Im Rahmen eines Forschungsprojekts schrieb der Germanist seine Doktorarbeit über den Schriftsteller und war im Jahr 2000 an der Gründung des Centre Dürrenmatt in Neuenburg beteiligt. Für die erste umfassende Dürrenmatt-Biografie konnte Weber auf viele erstmals zugängliche Dokumente zugreifen, so auf vernichtet geglaubte Briefe des Dichters an seine erste Frau Lotti.
Ulrich Weber, «Friedrich Dürrenmatt – eine Biografie», mit Bildteil, Erscheinungstermin: 23. September 2020
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