Auch mit 90 hadert Schriftsteller Paul Nizon mit seinen Landsleuten
«Der Schweizer überschätzt sich gerne»

Der alte Mann und die Literatur: Ein neuer Film zeigt Leben und Schaffen von Paul Nizon (90). Der Schriftsteller erklärt BLICK, warum er nicht in die Schweiz zurückkehren will.
Publiziert: 11.09.2020 um 23:39 Uhr
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Der französische Starautor Frédéric Beigbeder (54) nennt Paul Nizon «einen der bedeutendsten lebenden Autoren unserer Zeit».
Foto: Valeriano Di Domenico
Dominik Hug

Erst Weisswein, dann Kaffee. Paul Nizon (90) schluckt beides in grossen Zügen weg. Der in Paris wohnhafte Schriftsteller ist für einen Blitzbesuch nach Zürich gereist. Mit «Paul Nizon: der Nagel im Kopf» wird derzeit ein Film über Leben und Schaffen des grossen Schweizer Autoren in den Kinos gezeigt. Nizon findet den Film «sehr gelungen». Anerkennung ist ihm bis heute wichtig, Reichtum hingegen nicht.

BLICK: Wie geht es Ihnen?
Paul Nizon: Ordentlich. Mein Gehör ist nicht mehr so gut. Und ich brauche einen Stock zum Gehen. Ansonsten fühle ich mich gesund. Ich bin allerdings froh, wenn die Corona-Pandemie vorbei ist und man sich wieder unbeschwerter unter die Leute wagen kann.

Sie werden im Dezember 91 Jahre alt. Was ist das Schöne am Älterwerden?
Gar nichts. Das Alter ist eine Katastrophe. Wer etwas anderes behauptet, lügt. Mein Aktionsradius ist sehr klein geworden. Ich war früher überaus dynamisch, ich warf mich ins Getümmel. Das ist vorbei. Ich bin ein alter Gwaggli, wie es heisst. Aber solange ich noch autonom bin, darf ich mich nicht beklagen.

Rauchen Sie noch?
Ich war Kettenraucher, ich brauche die Zigaretten zum Arbeiten, dachte ich früher. Vor ein paar Jahren musste ich ins Spital wegen einer schweren Bronchitis. Als ich rauskam, hörte ich mit der Raucherei auf, ohne gross darüber nachzudenken. Ich hatte glücklicherweise auch keine Entzugserscheinungen.

Sie leben seit über 40 Jahren in Paris. Wie oft sind Sie noch in der alten Heimat?
Ganz selten. Und auch immer nur ganz kurz. Meine Schwester, meine Tochter, einer meiner Söhne und meine Nichte wohnen noch hier. Sie sind meine familiären Fixpunkte. Ausserdem noch eine Anzahl Freunde. Ansonsten interessiert mich das Land nicht.

Schon 1970 erhitzten Sie die Gemüter, als Sie sagten, dass hierzulande keine Literatur von Weltbedeutung geschaffen werden könne, weil die neutrale Schweiz so abgenabelt vom Weltgeschehen nur so vor sich hinvegetiere, dass sich schlicht keine bedeutenden Stoffe fänden. Finden Sie das noch immer?
Das Alter hat mich nicht milder gestimmt. Seit der Globalisierung hat sich aber auch in der Schweiz einiges getan. Dennoch: Lebt man in einem der grossen europäischen Länder, merkt man schnell, dass die winzige Schweiz international nicht im Zentrum steht. Der Schweizer überschätzt sich gerne.

Es ist heiss. Paul Nizon zieht sich das Jackett aus. Er verzieht das Gesicht, der Rücken schmerzt. In sanftem Berndeutsch verlangt er ein Glas Wasser. «Wo waren wir stehen geblieben», fragt er.

In Paris, wo Sie 1976 einen Neuanfang wagten.
Ah ja. Ich war so voller Lebensgier und fühlte mich in der Schweiz seelisch unterernährt. Ich wollte der Engnis der Provinz entkommen. Paris bedeutete für mich Freiheit und Glück und Ansporn. Dort bin ich zu dem geworden, als der ich gemeint war.

Dennoch haben Sie nie die Nationalität gewechselt.
Nein. Ich bin nicht mal Doppelbürger. Ich sehe mich als Heimatloser. Schon als Kind war ich für ein Kollektiv unbrauchbar. Gesellschaftliche Integration hat mich nie interessiert. Zu Paris empfinde ich aber tatsächlich ein Zugehörigkeitsgefühl. Gäbe es einen Pariser Pass, würde ich ihn wohl nehmen.

Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit?
Meine Jugend war nicht unbedingt glücklich. Als ich zwölf war, verlor ich meinen Vater. Ich wuchs in einem reinen Frauenhaushalt auf. Ich hatte keinerlei Führung, auch keine männlichen Bezugspersonen. Ich fühlte mich schutzlos. Ich war aussenseiterisch, unbezähmbar, ein Wildwuchs. Es ist reiner Zufall, dass aus mir kein Delinquent wurde.

Wie waren Sie als Papa?
Ungeduldig. Ich nahm mir kaum Zeit für die Kinder. Ich studierte als blutjunger Familienvater mit zwei Kindern als Werkstudent. Zeitgleich wollte ich ein grosser Schriftsteller werden. Diesem Ziel ordnete ich alles unter. Ich hatte immer das Gefühl, durch die Familie sei ich der Freiheit meiner Jugend, vor allem der Freizügigkeit, beraubt worden. Kurzum: Ich war ein eher schlechter Vater, selbstsüchtig, aber das sind wohl die meisten Künstler.

Sie haben nie an Ihrer Begabung gezweifelt, sagen Sie im Film ...
Richtig. Aber ich hatte grosse Angst, dass ich das, was in mir steckt, nicht richtig herausbringen könne. Es war hart, die Kanäle frei zu machen und meinen eigenen Stil zu finden. Mein erstes grosses Buch «Canto» war 1963 ein Misserfolg. Unbegreiflich für mich! Ich gab mein Bestes, doch das war offenbar nicht gut genug. Ich empfand das als riesige Strafe. Heute zählt «Canto» zu den grossen Büchern des 20. Jahrhunderts.

Definieren Sie sich noch heute über den Erfolg?
Definieren nicht. Aber natürlich ist mir Anerkennung wichtig. Ich habe viele Preise gewonnen, reich bin ich aber nicht geworden. Doch damit kann ich leben. Gelderwerb steht nicht im Zentrum meines Lebens. Die materialistische Lebensauffassung war mir stets zuwider. Auch das Sicherheitsdenken geht mir ab.

Schreiben Sie noch jeden Tag?
Nein. Die alte Schreibmaschine ist noch in Betrieb, aber der Drang, mich daran zu setzen, ist nicht mehr so existenziell. Ich schreibe weiterhin gerne Briefe. Ich bin der geborene Schreiber ohne Missionsdrang geblieben, ehrgeizig natürlich.

Der Kellner bringt das Wasser. Nizon nimmt einen Schluck. «Dauert das Verhör noch lange», fragt er. Eine Strähne fällt ihm ins Gesicht. Ungeduldig wischt er sie weg.

Wann sind Sie glücklich?
Die Frage nach dem Glück stelle ich mir selten. Ich habe viel gewagt, musste aber auch viel einstecken. Jemand sagte mal, dass ich bis heute eine der grossen Reizfiguren sei. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Schriftsteller ist ein unbarmherziger, einsamer Beruf. Aber mein Beruf war meine Berufung. Das Glück liegt wohl in den Zuständen der Selbstverwirklichung, den schöpferischen Anfällen.

Beschäftigen Sie sich mit dem Tod?
Nicht oft. Natürlich bin ich mir bewusst, dass ich mich in der letzten Phase meines Lebens befinde. Angst vor dem, was kommen wird, habe ich keine.

Das Grab haben Sie schon reserviert, heisst es.
Das ist Quatsch. Ich hatte mal gehört, dass es unmöglich sei, in Paris ein Grab zu finden. Mein französischer Verlag hat sich daraufhin an den ehemaligen Kulturminister Jack Lang gewandt. Dieser hat uns beruhigt.

Was haben Sie aus 90 Jahren Leben gelernt?
Leben ist Chaos. Und darin muss sich jeder selbst zurechtfinden. Mein Leitspruch lautet: Das Leben ist zu gewinnen oder zu verlieren. Ich suche es.

Paul Nizon: Der Nagel im Kopf

Paul Nizon kam 1929 in Bern als Sohn eines Russen und einer Schweizerin zur Welt. Mitte der 60er-Jahre veröffentlicht er das Kultbuch «Canto». Mitte der 70er-Jahre zieht er nach Paris. Der neue Dok-Film «Paul Nizon: Der Nagel im Kopf» handelt von der kompromisslosen Lebenssuche des Schriftstellers, zu dessen erfolgreichsten Werken «Das Jahr der Liebe» (1981) und «Die Belagerung der Welt» (2013) gehören. Nizon war dreimal verheiratet und hat vier Kinder. Er sei «einer der bedeutendsten lebenden Autoren unserer Zeit», sagt der französische Starautor Frédéric Beigbeder (54).

Paul Nizon kam 1929 in Bern als Sohn eines Russen und einer Schweizerin zur Welt. Mitte der 60er-Jahre veröffentlicht er das Kultbuch «Canto». Mitte der 70er-Jahre zieht er nach Paris. Der neue Dok-Film «Paul Nizon: Der Nagel im Kopf» handelt von der kompromisslosen Lebenssuche des Schriftstellers, zu dessen erfolgreichsten Werken «Das Jahr der Liebe» (1981) und «Die Belagerung der Welt» (2013) gehören. Nizon war dreimal verheiratet und hat vier Kinder. Er sei «einer der bedeutendsten lebenden Autoren unserer Zeit», sagt der französische Starautor Frédéric Beigbeder (54).

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