Der Vater arbeitet und verdient Geld, die Mutter bleibt zu Hause und kümmert sich um Haushalt und Kinder. Dieses traditionelle Familienbild war in der Schweiz bis weit ins 20. Jahrhundert fest verankert. Noch 1941 ging hierzulande nur ein Drittel aller Frauen einer Erwerbsarbeit nach. Das Angebot von ausserfamiliärer Kinderbetreuung in Form von Kindertagesstätten (Kitas) war im internationalen Vergleich schmal, die Nachfrage tief. Es galt vielmehr als Statussymbol, wenn die Mutter nicht arbeiten musste, sondern Zeit und Musse für die Kinderbetreuung hatte.
Anders sah das bei den italienischen Einwanderern ab den 1950er-Jahren aus. Deren Heimat lag nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich am Boden, in der Schweiz heuerten sie zu Tausenden als Gastarbeiter an, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Da die Schweizer Wirtschaft dringend nach billigen Arbeitskräften suchte, arbeiteten Männer wie Frauen.
Keine Vereinbarkeit von Beruf und Familie
1960 stammten 75 Prozent aller Arbeitnehmerinnen in der Schweiz aus dem Ausland, die Mehrheit von ihnen aus Italien. Viele gründeten hier Familien. Die Nachfrage nach günstigen Arbeitskräften war aber so gross, dass die italienischen Mütter schon kurz nach der Geburt der Kinder wieder arbeiten mussten. Eine familiäre Kinderbetreuung war so gut wie unmöglich. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellte sich für sie besonders akut.
Aus wirtschaftlicher Notwendigkeit mussten die Einwanderer selbst Strukturen für eine ausserfamiliäre Kinderbetreuung schaffen. Etwas, das noch in den 1970er-Jahren unter Schweizer Familien stigmatisiert war. Doch die Italienerinnen hatten keine Wahl. Und je mehr Mütter Vollzeit arbeiten konnten, desto mehr Geld konnte zurück in die Heimat geschickt werden.
«Asili» nur für Ausländerkinder
Daher riefen italienische Organisationen gemeinsam mit dem italienischen katholischen Missionarsorden (Missione Cattolica Italiana) ab den 1950er-Jahren Kinderkrippen ins Leben, sogenannte Asili. Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren wurden dort ganztags betreut und erhielten ein Mittagessen – aus heutiger Sicht eine Pionierleistung.
In Schweizer Familien war die Betreuung kleiner Kinder damals noch hauptsächlich Sache der Mutter oder – wenn man es sich leisten konnte – eines Kindermädchens. Die von den Italienern etablierten Asili blieben jahrelang Einrichtungen vor allem für Ausländerkinder.
Wandel in den 1980er-Jahren
Erst als in den 1970er-Jahren im Zuge der Ölkrise viele Migrantinnen und Migranten in ihre Heimatländer zurückkehrten, änderte sich die Situation. Die Nachfrage nach Arbeit bestand nach wie vor und der Druck stieg, dass auch Schweizerinnen einen einfacheren Zugang zum Arbeitsmarkt erhielten.
Ab 1976 brauchten verheiratete Frauen keine Erlaubnis ihrer Ehemänner mehr, wenn sie einer Erwerbsarbeit nachgehen wollten. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie stellte sich nun auch für Schweizer Frauen. Eine breit abgestützte ausserhäusliche Kinderbetreuung nach italienischem Vorbild musste her. In den 1980er-Jahren wurden entsprechende Einrichtungen mehr und mehr normalisiert – auch unter dem Eindruck der neuen Frauenbewegung.
Mittlerweile ist die Bedeutung von Kindertagesstätten in der Schweiz gesellschaftlich anerkannt. Ganz im Gegenteil zu den Ursprüngen des Kita-Angebots in der Schweiz. Max Frisch schrieb in seinem 1965 erschienenen Essay «Überfremdung»: «Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.» Menschen, die die Schweizer Gesellschaft langfristig vorwärtsbrachten.